Katharina und Werner Schmidtke erzählen vom Leben in der Sekte

Ehepaar aus Ahaus überlebte die „Hölle“ der Colonia Dignidad

Katharina und Werner Schmidtke haben viele Jahre in der berüchtigten Colonia Dignidad („Kolonie der Würde“) in Chile gelebt. Der pädophile Sektenführer Paul Schäfer führte dort ein Schreckensregiment. Heute versucht das Ehepaar den Neuanfang in Ahaus.

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Zwei Jahre war er, als Werner Schmidtke 1962 mit der Mutter und neun Geschwistern das Schiff nach Chile bestieg, um mit dem Sektenführer Paul Schäfer auszuwandern. „Der Vater blieb in Gronau. Er war nicht erwünscht, weil er zu oft die Wahrheit aussprach“, sagt der heute 57-Jährige. Schmidtke hat seine Kindheit, Jugend und einen großen Teil des Erwachsenenlebens in der berüchtigten Colonia Dignidad („Kolonie der Würde“) verbracht. Dort trieben der pädophile Sadist Schäfer und eine Kaste von „Herren“ mehr als vier Jahrzehnte ihr Unwesen – im Namen eines kruden Gottes.

Fünf Fluchtversuche hat Werner Schmidtke unternommen, um der „Hölle“ zu entgehen. Er wurde immer wieder eingefangen. „Ich kannte mich außerhalb der eingezäunten Kolonie nicht aus, sprach kein Spanisch, wusste nicht, wie ich Kontakt zur Polizei, zum Gericht, zur Deutschen Botschaft aufnehmen konnte.“ Erst 2005 schaffte es Schmidtke, mit seiner Frau Katharina und den beiden Töchtern nach Deutschland zurückzukehren. Im selben Jahr wurde Paul Schäfer in Argentinien verhaftet.

 

Leben mit Hartz IV

 

Schmidtke besuchte nie eine reguläre Schule und wurde von Kindheit an zur Schwerstarbeit gezwungen. Er versuchte, auf dem deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. In der Kolonie hatte er unter anderem als Tischler gearbeitet. Doch die Traumata der Vergangenheit holten ihn immer wieder ein. Heute ist er Frührentner. Die Familie lebt von Hartz IV. Katharina Schmidtke verdient mit Putzen und Küchenarbeit etwas dazu.

Zum Vater, der um 1970 in die Kolonie kam, hatte Schmidtke „Kontaktverbot“. Von der Mutter wurde er direkt nach der Ankunft in Chile getrennt – wie alle Kinder der Colonia Dignidad. Fürchterlich geweint habe er, hat ihm später seine Schwester erzählt. „Elterliche Liebe oder Schutz kenne ich nicht.“

 

Flucht auf Socken

 

Stattdessen wuchs er von unverheirateten „Gruppentanten“ bewacht mit Gleichaltrigen auf, von denen er wenig Halt erwarten durfte. „Wir wurden aufeinander gehetzt.“ Acht oder zehn sei er gewesen, als er seinen ersten Fluchtversuch unternahm. „Auf Socken.“ Wieder eingefangen wurde er gefoltert.

„Mädchen und Jungen lebten streng getrennt voneinander, weil Schäfer uns Kindern sexuelle Handlungen unterstellte“, erinnert er sich. „Der Teufel hat euch eingenommen“, habe es geheißen. Auch wenn man die vorgeblichen Taten in den „Beichten“ verleugnete, am Ende habe jeder alles zugegeben, was Schäfer verlangte.

 

Ekel und Abwehr

 

Gleichwohl spürte der Junge in sich Widerstandskräfte. „Die habe ich wohl vom Vater, der widersprach und deswegen angeblich die Wege Gottes verlassen hatte.“ Gott als Begriff sei für ihn „verschlissen“. „An eine Art Obrigkeit kann ich noch glauben.“

Es fing im Kinderhaus an, in dem auch Schäfer schlief, erinnert er sich. Eines Tages habe man ihn zu „Onkel Paul“ geschickt. „Ich ging mit Herzklopfen hin. Schäfer hat mich in sein Bett gezogen und den lieben Vater gespielt. Mein Ekel und meine Abwehr waren riesig. Da hat er sich meiner bemächtigt.“ Bei dieser Vergewaltigung sei es geblieben. Schäfer habe die Jungen in der Regel benutzt, um sich selbst zu befriedigen.

 

Mitleid wird bestraft

 

In Nachhinein erscheint Schmidtke das ganze, auf die „Schäfer-Religion“ basierende Lebenskonstrukt krude, menschenverachtend, weltfremd und bizarr. „Ich kannte aber nichts anderes.“ In jeder Gruppe habe es einen von Schäfer auserlesenen Jungen gegeben. Der habe die Gleichaltrigen kontrolliert. „Ich war für die Aufgabe nicht geeignet, weil ich nicht schlagen konnte. Ich hatte Mitleid mit den anderen und habe lieber das Gespräch eröffnet.“ Das sei ihm als „Faulheit“ ausgelegt worden. Die Strafe folgte sofort: Schmidtke wurde vom verschonten Jungen verraten und direkt danach krankenhausreif geprügelt.

„Nie wusste man, weswegen man bestraft wurde“, sagt Katharina Schmidtke. „Es wurde nie gesagt.“ Sie kam als Baby in die Kolonie. Von ihren Eltern kennt sie nicht einmal den Namen. Vom Hörensagen weiß sie, dass die Mutter sie wegen einer Lungenentzündung ins „Krankenhaus der Deutschen“ brachte. Das taten viele Chilenen aus der armen Landbevölkerung. Beim erste Mal sei sie noch abgeholt worden, beim zweiten Mal entweder nicht oder ihre Herausgabe wurde verweigert. „Man hat uns Babys der Reihe nach auf eine Couch gelegt. Dann kamen die Leute aus der Kolonie und haben sich eines ausgewählt.“

 

Adoption im Sekten-Imperium

 

So hat man es ihr erzählt. Von den „Wahl“-Eltern wurde sie mit acht Jahren adoptiert. Das hat sie erfahren, als sie 35 war. Eine offizielle Adoptionsurkunde gibt es nicht. Im Schäfer-Imperium herrschten eigene Regeln und Gesetze. Zugriff auf ihre Pässe hatten die Sektenmitglieder ohnehin nicht. Die wurden gesammelt und ohne persönliche Vorstellung von der Deutschen Botschaft in Santiago de Chile verlängert. Das haben Recherchen von Autoren ergeben. Heute kämpft Katharina Schmidtke um die deutsche Staatsangehörigkeit.

Als Kind habe man sie ständig gezwungen, auf einem Strich zu laufen – wohl, um ihre Haltung zu schulen. „Schäfer hat mich verdroschen, weil ich angeblich ein Mädchen angefasst habe.“. Der gebrochene kleine Finger wurde nie geschient. Nachts bettelte sie um den Schlüssel, um auf die Toilette gehen zu können. Der Plastik-Prügel der Gruppentante konnte jederzeit zum Einsatz kommen.

 

Schuften ohne Ende

 

„Wir haben von 6 Uhr früh bis abends 22 Uhr geschuftet. Es gab keinen Sonntag, keinen Feiertag, keinen Urlaub“, sagt Werner Schmidtke. Als Kind schleppte er Steine, zog mit bloßen Händen Disteln aus der Erde. Nach der Arbeit hielt ein ausgeschlafener Sektenführer Schäfer seiner Gemeinde Moralpredigten – „mit der Bibel in der Hand. Heute wisse er, dass sie mürbe gemacht wurden, um jede Eigeninitiative und Widerstandskraft im Keim zu ersticken.

2016 haben sich die Schmidtkes mit weiteren Kinder-Opfern der Colonia Dignidad zusammengeschlossen, um eine Opferentschädigung vom deutschen Staat zu fordern. „Der hat uns im Stich gelassen, obgleich er wissen konnte, wie menschenverachtend die Zustände in der Kolonie waren“, sagt er. 18 Opfer geben in einem selbst verfassten Buch „Dignidad“ Zeugnis davon.

 

Staatliche Verantwortung

 

Die Bundestags-Fraktionen der CDU/CSU, SPD und Bündnis 90/Die Grünen haben im Juni 2017 aufgrund der Initiative eine Aufarbeitung der Verbrechen der Colonia Dignidad gefordert. Von „Freiheitsberaubung, Verschwindenlassen, Zwangsarbeit, Sklaverei, Kindesmissbrauch, Körperverletzung, Folter, Verabreichung von Psychopharmaka ohne medizinische Medikation“ ist in dem Antrag die Rede. Das alles hat Werner Schmidtke als Kind erlitten, etwa im berüchtigten Neukra (Neues Krankenhaus): Schlaf- und Nahrungsentzug, Injektionen, eiskalte Duschen. Elektroschocks.

Schon dass er darüber öffentlich redet, kreiden ihm einige ehemalige Koloniebewohner als Verrat und Gotteslästerung an. Die Schmidtkes tun es dennoch, um überhaupt einen Neuanfang leben zu können.

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