Von gaffenden Priestern und zupackendem Glauben

Mitleid kommt von oben, Barmherzigkeit richtet auf

Ein Mensch bricht in einer Bankfiliale zusammen und bleibt bewusstlos liegen. Viele sehen ihn, alle gehen weiter. Der Mann stirbt. So passiert 2016 in Essen. Als Jesus lebte, gab es das auch schon. Er erzählt genau dasselbe. Und, sind Christen jetzt die besseren Menschen?

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Ein Mensch bricht in einer Bankfiliale zusammen und bleibt bewusstlos liegen. Viele sehen ihn, alle gehen weiter. Der Mann stirbt. So passiert 2016 in Essen. Als Jesus lebte, gab es das auch schon. Er erzählt genau dasselbe. Und, sind Christen jetzt die besseren Menschen?

Barmherzigkeit ist löblich, aber doch eher eine Sache für die anderen. Für Menschen vom Kaliber einer Mutter Teresa zum Beispiel oder für „Ärzte ohne Grenzen“. Oder würden Sie von sich sagen: „Ich bin ein barmherziger Mensch?“ Klingt eine Spur zu dick aufgetragen, zuviel der Ehre für unsereins, der „eine gute Tat am Tag“ lieber den Pfadfindern überlässt oder (bevor man etwas falsch macht) Leute beauftragt, die sich damit auskennen: die Experten von Caritas, Diakonie, Arbeiter-Samariter-Bund.

 

Gaffender Priester

 

Jenseits von Gesundheitssystem-Kalkulationen und Qualitäts-Sicherungs-Konzepten professioneller Sozialwerke ging es dem „Ur-Samariter“ um spontane, aus dem Herzen kommende Hilfsbereitschaft, um wache Barmherzigkeit. Das „Gleichnis vom barmherzigen Samariter“ erzählt von einem Mann, der unter die Räuber fiel, ausgeraubt, verprügelt und halb tot liegen gelassen wurde. Jesus lässt in dem Gleichnis, das er erzählt, rein zufällig einige Menschen vorbeikommen, darunter sogar einen Priester; und jedes Mal heißt es: „Er sah ihn und ging weiter.“

Erst ein Mann aus Samarien, einem Gebiet, dessen Bewohner von den Juden als Abtrünnige angesehen und gemieden wurden, – erst dieser Samariter erbarmt sich des Überfallenen, verbindet seine Wunden, bringt ihn zu einer Herberge und bezahlt sogar die Unterkunft. – Warum tut er das? Im Gleichnis ist die Antwort klar: „Er hatte Mitleid.“

 

Faule Hoffnung

 

Noch so ein Wort, das schnell nach distanzierter Betroffenheit klingt und wenig nach einer Herzensangelegenheit. Beim Samariter aber geht es um Mitleid voll Nähe, Zuwendung und Zuneigung im wahrsten Wortsinn: Er geht nicht weiter, überlässt ihn nicht seinem Schicksal in der faulen Hoffnung, es werde schon andere, kompetentere, „barmherzigere“ Zeitgenossen geben, die sich um ihn kümmern.

Nein, er leidet mit, er wendet – als Reisender! – seinen Blick von seinem eigentlichen Ziel ab, wendet sich dem Schwerverletzten zu, sieht ihn nicht nur (wie die anderen), sondern sieht ihn an, neigt sich zu ihm herab, berührt ihn, pflegt ihn. Aus Mitleid, ja, aber die Rede ist „nicht von einem Mitleid, das den Liegengebliebenen unten lässt, sondern das ihn aufrichtet im wahrsten Sinn des Wortes“, wie Osnabrücks Bischof Franz-Josef Bode über dieses Gleichnis schreibt.

 

Da scheint Gott durch

 

Nun gut, könnte man sagen, wer so handelt, handelt ehrenvoll, allemal menschenfreundlich. Aber was hat das mit Gott zu tun? Für Jesus ist die Sache eindeutig: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Der christliche Glaube ist so kühn, dass er in diesem Satz keinen Interpretationsspielraum lässt. Er ist genauso gemeint, wie er da steht. Wer barmherzig ist, der tut nicht einfach ein gutes Werk, wie es sich für Christen nun einmal gehört, sondern: Da scheint Gott durch.
Der Glaube an Jesus erschöpft sich nicht in frommer Innerlichkeit, nicht in spirituellem Wohlgefühl, sondern er packt an – weil es um Gott geht. Auf diese Spannung kommt es an, wenn christlicher Glaube lebendig, wahr und überzeugend sein soll.

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