Zum Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren im Bistum Münster

1945 – ein Jahr der Zeitenwende

Vor 75 Jahren, am 8. Mai 1945, endete der Zweite Weltkrieg. Vielerorts herrschten chaotische Verhältnisse, doch rasch zeigte sich auch im Bistum Münster der Wille zum Wiederaufbau.

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Zwei Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 und dem Kriegsende schreibt Bischof Clemens August Graf von Galen allen Dechanten einen Brief. Sein erstes Grußwort nach Beendigung der Kampfhandlungen gilt seinen Priestern. „Für Christus Zeugnis geben durch Leben und Wort, das ist zu jeder Zeit und erst recht in dieser Zeit des Neuaufbaus die allgemeine Parole für uns und für unsere Gläubigen.“

Der Bischof von Münster ist ein Mann klarer Worte. Viele Briefe schreibt er in diesen Wochen, und er erhält ebenso viel Post. Das Schreiben von Briefen ist das Kommunikationsmittel schlechthin, und die Zustellung der Post klappt auch in diesen unübersichtlichen Wochen erstaunlich gut.

 

Rückkehr der KZ-Priester

 

Die britische Militärregierung in Münster bittet er am 9. Mai, die Rückkehr der von den Nazis aus dem Bistum Münster verbannten Domkapitulare Franz Vorwerk und Clemens Echelmeyer zu ermöglichen: „Nachdem nunmehr die ungesetzlichen Maßnahmen der Geheimen Staatspolizei aufgehoben sind, bitte ich ganz ergebenst, den beiden verbannten hochwürdigen Herren ebenso wie den in Dachau ungesetzlich festgehaltenen Priestern unseres Bistums die sofortige Rückkehr nach Münster ermöglichen zu wollen.“

Der Bischof von Münster weiß, was er will.  In den Wochen der Ungewissheit ist das wichtig. In weiten Teilen des Bistums Münster hat der Zweite Weltkrieg bereits einige Wochen vor der Kapitulation am 8. Mai 1945 geendet. In Münster ziehen Anfang April die ersten alliierten Truppen in die Stadt ein, zunächst Amerikaner, unmittelbar danach folgen britische Soldaten. Viele Städte am Niederrhein können die Alliierten bereits im März besetzen – oft nach erbitterten Kämpfen. 97 Prozent des Stadtgebiets von Wesel werden zerstört. Noch Anfang April kämpfen deutsche Truppen und NS-Fanatiker im nördlichen Münsterland.

 

Sinnlosigkeit der Kämpfe

 

Dort, wo das Ende des Kriegs da ist, notieren die Kirchenvertreter die Zerstörungen und berichten von der Sinnlosigkeit der letzten Kämpfe. Am 28. April lässt der Offizial im oldenburgischen Bistumsteil, Johannes Pohlschneider aus Vechta, Bischof Graf von Galen einen Bericht über die Situation im Oldenburger Münsterland zukommen. Die Stadt Vechta wie der Kreis Vechta hätten nur geringen Schaden erlitten, schreibt der Offizial.

Schlimmer sei es im Kreis Cloppenburg: „Die Stadt Cloppenburg erlebte einen schweren Luftangriff und die Eroberung der Stadt kostete weitere Opfer. Die Pfarrkirche ist ziemlich beschädigt, im Augenblick kaum noch gebrauchsfähig.“

Zum Sinnbild und Mahnzeichen wurde das nach Kriegsende 1945 am Paulusdom in Münster aufgestellte Kreuz aus verkohlten Dachbalken am Ort der Verwüstung.Zum Sinnbild und Mahnzeichen wurde das nach Kriegsende 1945 am Paulusdom in Münster aufgestellte Kreuz aus verkohlten Dachbalken am Ort der Verwüstung.

 

Weiße Flagge am Kirchturm

 

Aus Friesoythe muss der Offizial „das Schlimmste berichten, das wir hier bisher erfahren haben“, wie er mitteilt. „Als die feindlichen Truppen in die Stadt einzogen, sollen der NS-Ortsgruppenleiter zusammen mit ein paar Fanatikern, die sich in der mit weißer Fahne beflaggten Kirche versteckt hatten, plötzlich Feuer eröffnet und einen (britischen) Major erschossen.“ Darauf hätten die Truppen in drei Tagen die ganze Stadt bis auf wenige Häuser vernichtet.

Auch in Vechta bemühen sich die Kirchenvertreter schon wenige Tage nach Ende der Kampfhandlungen um Normalität im Alltag. So schreibt der Offizial an seinen Bischof weiter: „In diesem Jahr wird in Vechta wieder die Christi-Himmelfahrtsprozession, wie früher, in althergebrachter Weise stattfinden. Die Vechtaer haben den lebhaften Wunsch geäußert, dass Euer Exzellenz an dieser Prozession teilnehmen möchten.“

 

Wunsch nach Waffenruhe

 

In seinem Antwortschreiben an den Offizial vom 2. Mai hofft Bischof Graf von Galen auf ein rasches Kriegsende, denn an der Weser und rund um Bremen wird Ende April weiter gekämpft: „Mit Sorge denke ich an die Gemeinden im Norden. Gott schenke auch ihnen bald Waffenruhe!“

Galen berichtet von Trümmerlandschaften in den Städten: „Im westlichen Münsterland viele Schäden: Dülmen, Coesfeld, Borken, Stadtlohn, Vreden, Bocholt völlig zerstört! Vom Rheinland und Industriegebiet bisher nur spärliche Nachrichten.“ 180 zerstörte Kirchen wird das Bistum Münster später zählen.

Vielerorts bauen die Gemeindemitglieder zügig Notkirchen auf und feiern auf engstem Raum Gottesdienste. So auch im westmünsterländischen Stadtlohn: Seit dem 11. März ist die Kirche St. Otger bei Luftangriffen

völlig zerstört. Wie viele Stadtlohner haben auch die Pfarrer Hugenroth, Kaplan Riesener und Vikar Wiesmann bei Bauern Schutz gesucht und das Kriegsende überlebt.

 

Messe auf Bauernhöfen

 

Trotz der vielen Probleme ist es der Wunsch vieler Menschen, den Ostergottesdienst zu feiern. Unter einfachsten Bedingungen wird er in der Kapelle auf Hof Harrier gehalten. Später feiern die Stadtlohner Gottesdienste auf Bauernhöfen wie Berghaus in Wendfeld, Kötting in Hengeler und Völker-Rathmer in Hundewick. Fabrikant Fritz Niehues stellt eine Fabrikhalle für den Gottesdienst frei. Im Lauf der Wochen berichten viele Pfarrer von den Kriegszerstörungen und dem Leid der Menschen, vom Schicksal der Soldaten und den Alltagssorgen um Lebensmittel, von Plünderungen, Diebstählen und Rachemorden von Zwangsarbeitern.

Für die britische Besatzungsmacht sind die Pfarrer und katholischen Vertreter oft erste Ansprechpartner, wenn es darum geht, das öffentliche Leben zu normalisieren und den Wiederaufbau zu organisieren. Die Kirchen sieht sie als nahezu einzige Institutionen des öffentlichen Lebens an, die in ihrer Struktur und ihrem Selbstverständnis intakt geblieben sind. In vielen Orten nehmen Ortspfarrer Einfluss, wer von den Besatzungsoffizieren als Bürgermeister eingesetzt wird.

Aus den Trümmern ragt nur noch der Torso des Turms der St.-Agatha-Kirche in Dorsten hervor.Aus den Trümmern ragt nur noch der Torso des Turms der St.-Agatha-Kirche in Dorsten hervor.

 

Vorwurf der Kollektivschuld

 

Die Alliierten wissen, dass auch Christen Widerstand geleistet haben. Allein im KZ Dachau beträgt die Zahl der dort inhaftierten Priester 2700, von denen 1000 im Lager sterben. Auch Bischof Graf von Galen weiß von den Widerstandshandlungen vieler Katholiken und weist den Vorwurf einer Kollektivschuld der Deutschen zurück.

Mehr und mehr wird das Ausmaß des Zweiten Weltkriegs mit 50 Millionen Toten, davon sechs Millionen ermordete Juden, allen Deutschen bekannt. Am 1. Juli in Telgte predigt der Bischof über die Kriegsursachen und über die Schuld der Deutschen: „Wenn man heute es so darstellt, als ob das ganze deutsche Volk und jeder von uns sich schuldig gemacht habe durch die Gräueltaten, die von Mitgliedern unseres Volkes im Kriege begangen sind, dann ist das ungerecht. Wenn man sagt, das ganze deutsche Volk und jeder von uns sei mitschuldig an den Verbrechen, die in fremden Ländern und im deutschen Lande, die vor allem in den Konzentrationslagern begangen sind, so ist das gegen viele von uns eine unwahre und ungerechte Beschuldigung.“

 

Bischofsworte finden Zuspruch

 

Viele Deutsche begrüßen diese Worte, weil auch sie sich mehr als Opfer der Nazi-Diktatur denn als Täter oder Mittäter fühlen. Gerade auch mit diesen Worten erfährt Bischof Graf von Galen viel Zuspruch.

Insgesamt ist das Ansehen der katholischen Kirche groß: Vielen Deutschen, aber auch den Alliierten erscheint sie als „Siegerin in Trümmern“, die nicht durch Kollaboration mit den Nazis diskreditiert ist. Auch der für religiöse Angelegenheiten zuständige Offizier der britischen Besatzungszone schreibt in einem Bericht, die Bischöfe verfügten „über das Prestige eines ungebrochenen Widerstandes“.

Kardinal Clemens August von Galen nach seiner Heimkehr aus Rom am 16. März 1946 auf den Trümmern des münsterschen Paulusdoms.Kardinal Clemens August von Galen nach seiner Heimkehr aus Rom am 16. März 1946 auf den Trümmern des münsterschen Paulusdoms.

 

Ein Schuldbekenntnis

 

Bei ihrer ersten Vollversammlung formulieren die deutschen Bischöfe in Fulda am Grab des heiligen Bonifatius am 23. August 1945 ein Schuldbekenntnis. Das gemeinsame Hirtenwort ist das erste nach Kriegsende veröffentlichte Dokument des deutschen Katholizismus und wird an den September-Sonntagen 1945 in allen Kirchen verlesen.

Die Bischöfe betonen den katholischen Widerstand, formulieren aber ebenso ein Schuldbekenntnis, das zu verstehen gibt, dass auch die Katholiken Schuld auf sich geladen haben: „Wir beklagen es zutiefst: Viele Deutsche, auch aus unseren Reihen, haben sich von den falschen Lehren des Nationalsozialismus betören lassen, sind bei den Verbrechen gegen menschliche Freiheit und menschliche Würde gleichgültig geblieben; viele leisteten durch ihre Haltung den Verbrechen Vorschub, viele sind selber Verbrecher geworden.“

In Ansprachen, Predigten und Briefen widmet sich Bischof Graf von Galen den Zukunftsfragen. Katholiken sollen Staat und Gesellschaft aufbauen, die Kirche über Schule und Erziehung ein ordentliches Wort mitreden. Der Bischof formuliert selbst ein politisches Programm, begrüßt weitgehend die Gründung der CDU und spricht sich gegen eine linksorientierte Zentrumspartei aus. Er ermutigt die katholische Jugend dazu auf, treu zur Kirche zu stehen.

Beim Abendgottesdienst, vor den Trümmern des Westportals, ruft er Tausenden von Gläubigen zu: „Unsere Feier soll sein ein Treuegelöbnis der heiligen katholischen Kirche. … Wir wollen glauben, was sie lehrt, wir wollen befolgen, was sie uns befiehlt, wir wollen dankbar annehmen und benutzen die Gnaden, die sie uns darbietet.“

 

Verbände blühen auf

 

Die katholischen Laien ermutigt der Bischof immer wieder, die katholischen Verbände wieder aufzubauen und das Vereinsleben zu fördern. Schon wenige Jahre nach Kriegsende verzeichnen Verbände wie Kolping und Katholische Arbeiterbewegung so hohe Mitgliedszahlen wie in den Vorkriegsjahren.

Ein besonderes Augenmerk richten die Bistumsleitung und die Gemeinden auf den Aufbau ihrer zerstörten Kirchen. Als in Dorsten am 22. März 1945, nur zwei Wochen vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in dieser Stadt, Luftangriffe der Alliierten die Altstadt völlig zerstörten, versank auch die spätgotische St.-Agatha-Kirche in Schutt und Asche.

 

Baupläne der Architekten

 

Nur wenige Wochen später äußert Bischof Graf von Galen gegenüber Pfarrer Franz Westhoff den Wunsch, Dorsten wieder ein „repräsentatives Gotteshaus“ zu geben. Im Herbst 1945 liefert der vom Kirchenvorstand beauftragte Kölner Architekt Otto Bongartz die ersten Entwürfe: eine basilikale Kirche mit mächtigem Westturm und zwei Seitentürmen im Osten. 1952 wird die neue Dorstener Kirche geweiht.

Auch der Paulusdom in Münster wird aufgebaut. „Am Ende des Krieges war der Dom eine Stätte der Verwüstung und des Grauens“, beschreibt der damalige Dombaumeister Heinrich Benteler den Zustand des Doms. 1956 werden zehntausende Gläubige die Wiedereröffnung der Kathedrale feiern.

Bischof Graf von Galen erlebt den Wiederaufbau nur in Ansätzen. Im Februar 1946 ernennt Papst Pius XII. den Berliner Bischof Konrad von Preysing und von Galen zu Kardinälen. Viele verstehen diese Würdigung als eine weltöffentliche Anerkennung ihres Widerstands gegen die Nazi-Diktatur.

Seine Kardinalserhebung in Rom kommentiert der Bischof von Münster mit den Worten: „Der Heilige Vater hat damit anerkannt, dass nicht alle Deutschen vollzählig der Verdammung unterliegen, die die Welt gegen sie aussprechen wollte. Vor aller Welt hat er als übernationaler und unparteiischer Beobachter das deutsche Volk als gleichberechtigt in der Gemeinschaft der Nationen anerkannt.“

Nur wenige Wochen nach der Kardinalserhebung stirbt Clemens August von Galen am 22. März 1946 in Münster.

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