LATEINAMERIKA

Adveniat: Wie das Hilfswerk jungen Frauen Selbständigkeit ermöglicht

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In El Salvador haben Frauen kaum Aufstiegschancen. Außer, sie nehmen ihr Schicksal selbst in die Hand. Wie das Hilfswerk Adveniat dabei hilft.

Saraí Portillo arbeitet am liebsten nachts. Das hat für die 26-jährige Salvadorianerin viele Vorteile: Es ist kühler in ihrem Heimatort in Chalatenango, im heißen Tiefland des mittelamerikanischen Landes. Es ist ruhig, und sie kann sich gut konzentrieren. „Das Einzige, was manchmal stört, sind die Mücken und die Nachtfalter“, sagt sie. 

Damit die dreijährige Tochter Evangeline nicht aufwacht, schleppt sie leise nacheinander drei Plastikboxen aus dem Wohnzimmer auf die Veranda. Dann schaltet sie eine kleine Schreibtischlampe an, setzt sich auf den alten, abgewetzten Küchenstuhl und beugt sich über winzige Perlen, elastische Drähte, bunte Fäden und fantasievolle Plastikfigürchen. Mit flinken Fingern knüpft sie Armbänder, reiht Plastikperlen an einer Schnur auf und formt kunstvolle Ohrringe. „Evangeline“ heißt auch ihre Modeschmuck-Marke, die sie über die sozialen Medien und Mund-zu-Mund-Propaganda bekannt macht.

Saraí Portillo ist heute eine stolze Kleinunternehmerin. Sie verdient ihr eigenes Geld und teilt sich ihre Zeit frei ein. Bis vor ein paar Monaten war das noch undenkbar. Angestellt bei einer karitativen US-Organisation hatte sie einen festen Job. 

Davon träumen zwar viele in El Salvador, wo 68 Prozent im informellen Sektor arbeiten, also ohne Arbeitsvertrag und ohne jede Absicherung. Für Saraí Portillo wurde es aber schwierig, als ihre Tochter zur Welt kam. Ihre Vorgesetzten verlangten weiter Überstunden von ihr, die sie als junge Mutter nicht leisten konnte. Lehnte sie ab, wurde sie gemobbt.

Schlechte Arbeitsbedingungen

Teilzeitarbeit oder Rücksichtnahme auf die Familie sind in dem mittelamerikanischen Land unbekannt. Auch nach drei Jahren verdiente sie noch den Mindestlohn von umgerechnet 331 Euro. Das ist im lateinamerikanischen Vergleich zwar nicht schlecht, aber in einer Dollar-basierten Wirtschaft wie in El Salvador, in der sich die Preise an den USA orientieren, reicht das gerade so für eine Person zum Überleben. Dann erhielt ihr Mann das lukrative Angebot, als Gärtner auf Zeit in den USA zu arbeiten. Er ging, Saraí kündigte. „Ich bin zuerst in ein tiefes Loch gefallen, so alleine in dem Haus und ohne eigenes Geld“, erzählt sie.

Es ist ein klassisches Dilemma vieler junger Frauen in El Salvador, schildert die Psychologin Silma Sandóval. In einer patriarchalen Gesellschaft treffen die Männer die Entscheidung über die Familien. Die Wünsche und Bedürfnisse der Frauen stehen hinten an.

Im Job verdienen Frauen im Schnitt 40 Prozent weniger als Männer und haben deutlich schlechtere Chancen am Arbeitsmarkt. Vor allem wenn sie, so wie Saraí, aus einfachen Verhältnissen stammen. Saraís Vater war Fischer, ihre Mutter Hausfrau. Die 26-jährige, aufgeweckte, engagierte junge Frau hat sich das Abitur egegen den Willen ihrer Eltern erkämpft. „Das bringt doch nichts“, sagten sie ihr. Doch Saraí Portillo setzte sich durch. Nun aber, mit einer kleinen Tochter und vorübergehend ohne Mann und ohne Job, fühlte sie gefangen.

Schrecken des Bürgerkriegs

Bis eine Freundin ihr von kirchlichen Fortbildungskursen erzählte. „Komm doch mal mit“, sagte sie. Saraí schnappte sich ihr Fahrrad, setzte Evangeline vorne darauf und radelte die fünf Kilometer bis zur Caritas-Zentrale von Chalatenango. Was sie dort beim Kurs für angehende Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer sah und hörte, faszinierte sie sofort. „Es ging um Marketing-Strategien, um Buchhaltung, aber auch um Selbstbewusstsein, Umweltschutz und Frauenrechte“, erzählt sie über den Kurs, der vom Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat finanziert wurde. „Neben dem Geschäftlichen hat mir vor allem der Austausch mit anderen jungen Leuten gut gefallen“, erzählt sie. „Alle gingen respektvoll miteinander um, Männer und Frauen waren gleichberechtigt.“

Gesellschaftliche Entwicklungen, die in Europa selbstverständlich sind, stehen in El Salvador noch aus. Denn das Land steckt seit den 1980er Jahren in einer Gewaltspirale. Sie begann mit dem Bürgerkrieg zwischen der linken Guerilla und der rechten Militärdiktatur. Nach dem Friedensschluss 1992 übernahmen kriminelle Jugendbanden – Maras genannt – die Kontrolle in den Armenvierteln. Sie tyrannisierten die Bevölkerung, erpressten Schutzgelder, mordeten, dealten mit Drogen, rekrutierten Jugendliche und vergewaltigten Frauen. Viele Eltern ließen ihre Kinder aus Angst nicht mehr draußen spielen oder zu Kursen gehen, die etwas weiter entfernt waren. Hunderttausende, vor allem junge Salvadorianerinnen und Salvadorianer wanderten aus.

Zerrüttete Lebensverhältnisse

„Gerade Jugendliche aus ärmeren Verhältnissen sind in einer Spirale von Gewalt, Armut und Migration gefangen“, erzählt die Psychologin und Adveniat-Partnerin Silma Sandóval. Das verhindert aber auch die Entwicklung des Landes. Bis heute gibt es kaum Industrie, der Staat investiert wenig in Bildung und Freizeitangebote. Die Familien sind oft durch Migration, Alkohol- und Drogenmissbrauch zerrüttet. Gewalterfahrungen aus dem Bürgerkrieg wurden nie systematisch aufgearbeitet und werden so von Generation zu Generation weitergetragen.

2022 wurde die Gewalt durch die harte Politik des neuen Präsidenten Nayib Bukele beendet. Nun aber müssen sich die Jugendlichen vor der Polizei fürchten, die – geschützt vom permanenten Ausnahmezustand – jeden grundlos festnehmen kann. Jugendliche stehen unter Generalverdacht. Sie werden weggesperrt, oft jahrelang, verurteilt in Schnellprozessen, ohne Recht auf Verteidigung.

Entwicklung eigener Geschäftsidee

Davon war auch Saraís Kindheit überschattet – ohne dass ihr es wirklich bewusst war. Ihre Sozialkontakte beschränkten sich auf die Familie, ein paar Nachbarskinder und Schulkameradinnen. Erst in den Gesprächen während des Kurses wurde ihr klar, was ihr alles entgangen war. „Ich habe gelernt, wie man mit seinen Emotionen besser umgeht oder welche Rechte ich als Frau habe“, sagte sie.

Am Ende des Kurses konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Geschäftsidee vorstellen. Die besten wurden mit einem Startkapital von umgerechnet 461 Euro belohnt. Saraí Portillos Modeschmuck-Projekt „Evangeline“ gehörte dazu. „Es war der glücklichste Tag seit der Geburt meiner Tochter“, sagt sie. Mit dieser Anschubfinanzierung hat sie Materialien gekauft, ein Logo gestaltet und Anzeigen in den sozialen Medien geschaltet. Ihren Schmuck verkauft sie auf Messen und im Internet. An Schulen gibt sie Interessierten gratis Schmuckkurse und verkauft diesen Materialien, die sie selbst im Großhandel billiger beziehen kann.

Wirtschaftliche Unabhängigkeit

Inzwischen bestreitet sie den Lebensunterhalt für sich und ihre Tochter. Was ihr Mann in den USA verdient, wird für den Bau eines gemeinsamen Hauses zurückgelegt. „Ohne die Anschubfinanzierung hätte ich das nie geschafft“, sagt sie dankbar. „Die Banken geben Selbstständigen wie mir keine Kredite. Außerdem sind die Zinsen mit 25 Prozent und mehr viel zu hoch.“

Psychologin Silma Sandóval wird es warm ums Herz, wenn sie Geschichten wie die von Saraí Portillo erlebt. „Unsere Jugend braucht nur eine kleine Hilfe und entfalten dann so viel positive Energie“, sagt sie. Das Pilotprojekt des Lateinamerika-Hilfswerks Adveniat war so erfolgreich, dass mit weiteren Geldgebern eine Aufstockung geplant ist. Saraí Portillo schmiedet bereits neue Pläne: Mit einer Kursteilnehmerin, die sich auf Stoffblumen spezialisiert hat und in der Nähe wohnt, träumt sie von einem eigenen Ladengeschäft.

Adveniat-Weihnachtsaktion 2024: „Glaubt an uns – bis wir es tun!“  
Viele Jugendliche in Lateinamerika und der Karibik haben den Glauben an eine gute und sichere Zukunft verloren. Ausreichende Schul- und Berufsausbildungen werden ihnen verweigert. Sie hungern, werden Opfer krimineller Banden oder begeben sich auf eine der lebensgefährlichen Fluchtrouten in den reichen Norden. Unter dem Motto „Glaubt an uns – bis wir es tun!“ stellt das Lateinamerika-Hilfswerk Adveniat das Thema Jugend in den Mittelpunkt der diesjährigen bundesweiten Weihnachtsaktion der katholischen Kirche. In Jugendzentren, mit Aus- und Weiterbildungsprogrammen sowie Stipendien für den Berufseinstieg bietet Adveniat mit seinen Partnerorganisationen der Jugend in Lateinamerika und der Karibik eine Zukunft. Die Weihnachtskollekte am 24. und 25. Dezember in allen katholischen Kirchen Deutschlands ist für Adveniat und die Hilfe für die Menschen in Lateinamerika und der Karibik bestimmt. Spendenkonto bei der Bank im Bistum Essen, IBAN: DE03 3606 0295 0000 0173 45 oder unter www.adveniat.de.

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