Situation ist herausfordernd, aber bereichernd

Alleinerziehend mit einem geistig behinderten Pflegekind

Ein Pflegekind mit geistiger Behinderung aufzunehmen, ist eine große Herausforderung - für eine Alleinerziehende sicher besonders. Ein Beispiel zeigt, wie die Situation trotzdem gelingen kann.

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Was für ein Energiebündel! Kerstin hockt am Wohnzimmertisch und malt und malt und malt. Das Papier stapelt sich. Dabei kommentiert die Zehnjährige ihre Zeichnungen laut, lacht, schimpft und singt. Sie erzählt Geschichten, lässt die gemalten Figuren sprechen, geht mit ihnen in den Dialog. Das geht schon zwei Stunden so. Zwischendurch nimmt sie für kurze Momente Kontakt zu ihrer Pflegemutter in der Küche auf. Sie holt sich die Sicherheit, dass sie nicht allein gelassen wird. Dann wird weitergemalt.

„Sie verarbeitet dabei viel“, sagt Karin Schmidt (Namen von der Redaktion geändert). „Schule, das Spielen vom Nachmittag, die Ereignisse der Woche.“ Manchmal merkt die Pflegemutter, dass da auch Dinge ins Spiel kommen, die weiter zurückliegen. Die in den ersten Jahren des Kindes passierten. Mit vier Jahren kam Kerstin zu ihr. Davor war ihr kindliches Leben geprägt von Vernachlässigung, Gewalt und Hilflosigkeit. „Ich glaube nicht, dass die Eltern sie nicht geliebt haben“, sagt die 44-Jährige. „Aber sie waren total überfordert.“

 

Lebenslange Wirkung der frühen Kindheit

 

Sechs Geschwister hat Kerstin. Fünf davon leben in Pflege-Familien. Es gibt noch etwa 20 Halbgeschwister. Die Zahlen beschreiben eine frühkindliche Situation, die eine lebenslange Wirkung hinterlassen hat. „Das Paket, das sie mitbekommen hat, ist riesig“, sagt Schmidt. „Es gibt keine Pflegekinder ohne Trauma.“ Das zeigt sich in vielen Alltagssituationen. „Als sie zu mir kam, stopfte sie die Mahlzeiten wild in sich hinein.“ Sie kannte kein regelmäßiges Essen. Kerstin war nicht in der Lage, Hunger zu äußern. Sie wusste nicht, dass es nach einiger Zeit wieder etwas zu Essen geben würde.

Schmidt sitzt am Küchentisch in ihrer Haushälfte in Ibbenbüren. Die Heilpädagogin sitzt dort als alleinerziehende Pflegemutter, die sensibel auf die Selbstgespräche von Kerstin im Wohnzimmer hört. „Wenn ich merke, dass sie zu schwere Dinge verarbeitet, versuche ich, sie zu unterbrechen.“ Zwar sei es gut, wenn das Kind sich Luft mache. „Aber ich will nicht, dass sie dabei retraumatisiert wird.“

 

Kerstin hat autistische Züge

 

Kerstin hat eine geistige Behinderung, ist entwicklungsverzögert und hat autistische Züge. Dass es nicht leicht mit ihr werden würde, war Schmidt von Anfang an klar. „Ein Pflegekind ist kein Kind aus dem Katalog.“ Das war auch nicht ihr Wunsch. Der entwickelte sich anders. Sie konnte keine Kinder kriegen, der Sehnsucht nach einer eigenen Familie blieb aber. „Ich wollte Mutter sein, wollte auch auf der Bank am Spielplatz sitzen und meinem Kind zusehen.“

Sie träumte aber nicht von dem klavierspielenden Genie wie so manche Mutter, sagt sie. „Überhöhte Vorstellungen hatte ich nicht.“ Dafür hatte sie sich mit der Situation einer Pflegemutter im Vorfeld zu intensiv auseinander gesetzt – zudem einer alleinerziehenden. Sie wusste, dass diese Situation auch für sie zu einem schweren Paket werden würde und formulierte deshalb keine Entwicklungsziele für ihr Pflegekind. Nur ein Ziel für sich: „Ich wollte kein Wunschkind haben, sondern eine Wunschmutter sein.“

 

Liebe auf den zweiten Blick

 

Das ist sie heute, zweifelsohne. Wenngleich das durchweg kein leichter Weg war und ist. „Ich bin kein Typ für die Liebe auf den ersten Blick.“ Als sie nach monatelanger Vorlaufphase mit Kontaktgesprächen, Informationswochenenden und Gesprächsrunden vom Berater des Sozialdienst katholischer Frauen (SkF) in Münster die Rückmeldung bekam, dass da „vielleicht jemand für sie wäre“ und wenig später das erste Foto von Kerstin gezeigt bekam, war das kein Anlass für sie, in Euphorie zu verfallen. „Unschöne Bilder waren das – ihr Blick war leer, sie berührte mich nicht.“

Trotzdem ließ sie sich auf den Prozess der Anbahnung ein. „Ich kenne mich ja – bei mir entwickelt sich eine Beziehung nach und nach.“ Die schrittweise Annäherung, die der SkF organisierte, passte also zu ihr. Besuchen von Schmidt bei der Bereitschaftspflegemutter folgten Besuche von Kerstin bei Schmidt. Es war eine Phase, in der sie sich oft überfordert fühlte. Würde sie den Alltag meistern können? Was würde ihr Arbeitgeber zu ihren Plänen sagen? Wie würde sie die neue Situation finanziell stemmen?

 

Es musste ihr ernst sein

 

Und immer wieder der zentrale Punkt: „Ich ließ mich allein auf die Herausforderung ein – ohne Partner an meiner Seite.“ Schmidt sagt, dass sie in dieser Frage auch eine Zurückhaltung bei den Beratern des SkF gespürt habe. Sie fragten sie das ein oder andere Mal, ob sie mittlerweile in einer Beziehung lebe. „Das war aber ganz liebevoll von ihnen gemeint – nicht zweifelnd, sondern fürsorglich.“ Letztlich fanden sie in diesen Gedanken gemeinsam eine Bestärkung für den Schritt zum Pflegekind: „Wenn ich mich trotz der zusätzlich beanspruchenden Situation einer Alleinerziehenden auf die Herausforderung einließ, musste es mir ernst sein.“

Auch wenn sie in dieser Phase „unglaublich emotional“ war, den großen Moment, in dem sie von der Liebe zu Kerstin umgehauen wurde, gab es nicht. „Ich war aufgeregt, traurig, glücklich – aber nicht verliebt.“ Vielleicht nahm sie deshalb ihre Schwester mit zu einem Treffen mit Kerstin. Sie sollte die Situation von außen bewerten. Die Reaktion der Schwester war deutlich: „Dass du sie aufnimmst, steht überhaupt nicht mehr zur Debatte – merkst du eure Freude denn nicht, wenn ihr euch seht.“

 

Wut und Trauer über die Vergangenheit

 

Sie konnte nicht mehr „Nein“ sagen. Das war ihr von da an Gefühl. „Ich wollte mich in Kerstin verlieben.“ Das tat sie dann in einer Zeit, in der es für Menschen ohne Kinder kaum zu glauben ist. Es waren die Monate nach Kerstins Einzug. In denen das Pflegekind ins Bett nässte. In der Schmidt nächtelang an der Wand des Kinderbetts lehnte und Kerstin im Arm wiegte. In der sich das Kind auf den Boden warf, sich selbst schlug und an den Haaren riss. In der in allen Reaktionen die Wut und Trauer der frühkindlichen Vergangenheit hochkochten.

Denn diese Monate waren auch die Zeit, in der es oft tief ins Herz ging. Wenn sie das nasse Bettlaken gewechselt hatte und Kerstin im frisch gemachten Bett friedlich schlummerte. Wenn sie erleben durfte, wie ihr Pflegekind begann, beim Malen zu singen. Oder wenn sie im Urlaub am Strand stundenlang gemeinsam im Sand buddelten. „Ich war damals total erschöpft, aber oft überglücklich.“ Sie war verliebt.

 

Der Wochenplan hängt am Kühlschrank

 

Noch immer geht Schmidt mit vielen Dingen sachlich um. Als Heilpädagogin besitzt sie viel Wissen über die Hintergründe von Kindern mit Beeinträchtigungen, wie sie Kerstin hat. „Der Alltag muss gut strukturiert, alles muss für sie vorhersehbar sein.“ Magnete auf dem Wochenplan am Kühlschrank helfen Kerstin, sich auf anstehende Situationen frühzeitig einzustellen. Das Foto der Tante hängt am kommenden Mittwoch in der Mittagszeit. Sie wird Kerstin von der Förderschule abholen. „Wenn dann die Oma kommen würde, wäre das Kind total überfordert.“

Vieles ist deshalb durchorganisiert. Mit den Beratern des SkF entwickelt sie gemeinsam Hilfen für den Alltag. Ihre Familie und ein Kindermädchen unterstützen sie. „Obwohl mit Kerstin viel Wirbel in mein Leben gekommen ist, bin ich viel gelassener geworden.“ Schmidt weiß, dass gerade diese Ruhe für Kerstin wichtig ist. „Wenn ich einfach da sitze, ein Buch lese oder ihr beim Spielen zuschaue.“ Oder wenn sie am Küchentisch sitzt und lauscht, wie Kerstin ihre Bilder malt und dabei lacht, schimpft und singt.

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