Warum das Christentum mehr als eine Verpackung ist

An die Ränder zu gehen, reicht Jesus nicht

Wenn Grenzen fließend werden, wollen manche erst recht Grenzen setzen. Was bedeutet das für eine Religion, die sich eigentlich jenseits aller Ränder am wohlsten fühlte?

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Wenn Grenzen fließend werden, wollen manche erst recht Grenzen setzen. Was bedeutet das für eine Religion, die sich eigentlich jenseits aller Ränder am wohlsten fühlte?

In den ersten Wochen des neuen Jahrs ist Hochkonjunktur in deutschen Fitnessstudios. Offenbar sind über die Feiertage und den Jahreswechsel tausende Körper derart aus der Form geraten, dass Vorsätze flugs in Anmeldeformularen der nächsten Muckibude festgeschrieben werden müssen.

Wer hingegen so richtig gut in Form ist, der freut sich über Idealgewicht, Normwerte bei Blutdruck und Zucker, einen einwandfrei funktionierenden Muskel- und Knochenapparat und einen auch für die Mitmenschen gut erträglichen Seelenzustand.

 

Formen ändern sich ständig

 

Wichtig ist die Form, das Format, die Verpackung. Wie sehe ich von außen aus? Wie wirke ich? Passt meine Form zur Norm? Doch wer bestimmt die? Wer sagt, was normal ist?

Nicht erst seit so viele Menschen aus anderen Kulturen und Religionen, mit anderen Bräuchen und Gepflogenheiten nach Deutschland kommen, spielt die Frage danach eine große Rolle, was denn die uns hier verbindende, verbindliche Form unseres Zusammenlebens ist.

Das Neue, Ungewohnte kommt nämlich nicht nur von anderen Ländern zu uns. Längst hat sich in unserer Gesellschaft vieles radikal verändert: die Art und Weise, wie Menschen zusammenleben – verheiratet, unverheiratet, geschieden, mehrfach verheiratet, alleinerziehend, Paare in zwei Wohnungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen, mit Kindern und ohne ...

 

Mit Jeans ins Theater?

 

Auch die Formen unseres Erwerbslebens haben sich gewandelt: Der eine feste Job, den man über Jahrzehnte in derselben Firma hatte, am selben Ort mit derselben Sicherheit – alles andere als die Norm.

Nicht anders sieht es mit Umgangsformen aus. Den Hut zückt heute kein Mann mehr zum Gruß. In Jeans ins Theater? – Kein Problem! Und vor Ärzten, Lehrern, Pfarrern macht wohl kaum noch einer einen „Diener“. Dennoch ist vielen eine gewisse Form im Umgang wichtig: Freundlichkeit, Höflichkeit, Treue und Verlässlichkeit – sie sind immer noch oder gerade wieder hoch im Kurs, wenn auch nicht von jedem beachtet.

 

„Jesus in schlechter Gesellschaft“

 

Machen wir uns nichts vor: Was „man“ tut, interessierte Jesus reichlich wenig. „Jesus in schlechter Gesellschaft“ ist denn auch der treffende Titel eines Büchleins, mit dem der spätere Ex-Priester Adolf Holl in den Siebzigerjahren für Furore in einer recht verbürgerlichten Kirche sorgte. Die Form zu wahren, wenn die Inhalte nicht stimmten – das war Jesu Sache nicht.

Papst Franziskus ruft immer wieder dazu auf, „an die Ränder“ zu gehen, doch Jesus ist noch einen Schritt weiter gegangen: Er überschreitet Ränder, Grenzen, Formen und gibt sich mit Menschen ab, die definitiv hinterm Rand leben, jenseits aller Normen. Er tut Dinge, die „man“ eben nicht tut: Er isst mit jenen, denen andere nicht einmal die Essensreste geben würden. Er berührt Ausgestoßene, von deren Schicksal sich andere nicht im Ansatz berühren lassen. Er lässt sich von Prostituierten mit duftendem Öl salben, während andere über diese Frauen die Nase rümpfen.

 

Gott in Bestform

 

In solchen Situationen ist Gott in Bestform. Dieser Jesus selber nämlich ist die „Form“, in der Gott sich greifbar und berührbar macht. Schließlich braucht alles, was wir wahrnehmen sollen, irgendeine Form. Jesus ist diese Form gewordene Gegenwart Gottes in unserer Welt. Bis heute.

Alle anderen Formen – etwa die Sakramente, die Kirche – beziehen sich auf diese „Ur-Form“: Jesus. Und stehen unter einem neuen Gebot als tragende Norm: „Liebt einander!“ Liebe aber will zwar sicherlich eine Form, eine Lebensform und Glaubensweise, kennt zugleich aber kein Halten, keine Grenzen. Wo das gelebt wird, ist Christentum in Höchstform.

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