Ehemalige SPD-Vorsitzende zu Gast in Freckenhorst

Andrea Nahles bedauert Rückzug der Kirchen - und will faire Zuwanderung

  • Die ehemalige SPD-Vorsitzende Andrea Nahles bedauert den Rückzug der Kirchen aus der Gesellschaft.
  • Als neue Chefin der Bundesagentur für Arbeit will sie Zuwanderung fair gestalten und Künstliche Intelligenz fördern.
  • Nahles war zu Gast in der Landvolkshochschule in Warendorf-Freckenhorst.

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„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ lautet die berühmte Frage Gretchens an ihren geliebten Faust. „Frau, gläubig, links“: Auf diesen Nenner bringt Andrea Nahles in einem Buch ihr religiöses Bekenntnis zum katholischen Glauben. Aus ihrem Selbstverständnis als katholische Christin machte die ehemalige SPD-Vorsitzende und jetzige Bundesvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit am Montagabend in der Landvolkshochschule Freckenhorst keinen Hehl. 

„Geht hinaus in die Welt – wie der Glaube auch politisch wird“ lautete das Thema der Veranstaltung in der gut besuchten Gartenhalle, in der Direktor Michael Gennert auch im Namen der Pfarrei Bonifatius und St. Lambertus die Frau mit den klaren Botschaften und die Kämpferin, wenn es darum geht, soziale Missstände in der Gesellschaft anzuprangern, getreu ihres Mottos: „Mach’s wie Gott, werde Mensch“ begrüßte. Dieses Zitat des früheren Limburger Bischofs Franz Kamphaus stellte die ehemalige SPD-Politikerin, die schon viele Rollen (Nervensäge, Regierungslinke, Streberin, Koalitionsanker) in ihrer Laufbahn gehabt hat, in den Mittelpunkt ihrer Rede. Glaube ist für Andrea Nahles, die in einem katholischen Dorf in der Eifel aufwuchs und lebt, keine Privatsache.

Nahles bedauert Rückzug der Kirchen

In den vergangenen drei Jahren seit ihrem Rückzug aus der Politik sei viel passiert – „auch in meiner Kirche im Bistum Trier“. Beim Gottesdienstbesuch am vergangenen Sonntag habe sie gerade mal 28 Besucher gezählt. „Das ist eine bedrückende Realität“, stellte die 52-Jährige fest. Und sie fügte ein Beispiel aus ihrer Familie an. Als ihre Tochter sich entschlossen habe, Messdienerin zu werden, habe sie sich „echt gefreut“. In der Schule sei das Mädchen dafür aber ausgelacht worden.

Nahles kritisierte, dass sich Christen nur noch mit sich selbst beschäftigten. Die Kirche habe sich seit der Corona-Pandemie überhaupt nicht mehr zu Wort gemeldet, bedauerte Nahles diesen „Total-Rückzug“ übrigens auch bei den evangelischen Christen. Die katholische Kirche werde nur noch im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal und Vorwürfen gegen den Kölner Kardinal Woelki wahrgenommen. „Wir schrumpfen und das tut weh“, so Nahles, sei aber keine Entschuldigung für den Rückzug. Darüber wolle sie sich demnächst auch mit dem Vorsitzenden der deutschen Bischofskonferenz, Georg Bätzing, austauschen. „Wir brauchen die Stimme der Kirche“, betonte Nahles. „Zieht euch nicht auf eure Eisscholle zurück. Das kann es nicht sein für uns Katholiken.“

Künstliche Intelligenz weiterentwickeln

Veranstaltung in der Gartenhalle
Andrea Nahles sprach in Freckenhorst vor einem breiten Publikum. | Foto: Kessing

Gesellschaftspolitisch bedeutsam ist die neue Aufgabe von Andreas Nahles, die den Vorstandsvorsitz der Bundesagentur für Arbeit am 1. August in schwierigen Zeiten übernommen hat. Das heißt für sie im Klartext: Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik sei es, dass die Starken die Schwachen tragen. Aber auch, dass jeder einzelne für sich selbst Verantwortung übernehmen müsse. Sie nannte das „Bürgergeld“ als Ersatz für die Grundsicherung Hartz IV, über das es große Auseinandersetzungen gebe.

Nahles hat sich ehrgeizige Ziele gesetzt. Sie will das einstige „Arbeitsamt“ zur Vorzeigebehörde machen – modern und digital, aber auch noch stärker kundenorientiert. Sie setze auf Mitwirkung, anstelle von Sanktionen beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit. Der Weg, auch bei der Automatisierung und beim Einsatz von Künstlicher Intelligenz, müsse fortgesetzt werden. „Wir dürfen aber nicht automatisieren, um Menschen einzusparen“, äußerte sie, dass sie selbst diese Entwicklung noch vor ein paar Jahren als bedrohlich empfunden habe. Aber eine wertebasierte Technik sei Voraussetzung, um mehr Zeit für die einzelnen Menschen zu haben.

Viele Flüchtlinge aus der Ukraine integriert

Auf dem evangelischen Kirchentag 2023 in Nürnberg werde sie das Thema Künstliche Intelligenz zum Thema machen. „Wir müssen den Fortschritt menschlich gestalten.“ Das gelte auch für eine notwendige und faire Zuwanderung, um den Fachkräftemangel zu beheben, betonte die Behördenchefin. „Wir müssen Verantwortung für die Menschen übernehmen, sie zu uns kommen.“ Denn es kämen Menschen und nicht Fachkräfte, so Nahles.

Die Integration von den rund 500.000 bei der Arbeitsagentur registrierten Flüchtlingen aus der Ukraine komme voran. 75.000 Menschen seien inzwischen in Integrationskursen, 45.000 arbeiteten bereits in Vollzeit und 12.000 in Teilzeit. „Das ist eine sehr gute Quote“, stellte Nahles fest. „Wir können über diese Menschen nichts Negatives melden.“ Zu dem kürzlich geäußerten Vorwurf des Sozialtourismus sagte sie, dass es dafür keine Anhaltspunkte bei den Geflüchteten gebe.

Spaltung der Gesellschaft droht

„Wir müssen diskursiv bleiben in der Gesellschaft“, forderte die engagierte Katholikin ein Minimum an Bereitschaft, sich auseinanderzusetzen und kein „Lirum, Larum, Löffelstiel“ zu machen. Das betreffe auch den Umgang beispielsweise mit anderen Religionen und ihrem tief sitzenden Glauben. Einen verständigen Diskurs hochzuhalten bleibe Aufgabe der Christen, ansonsten drohe eine Spaltung der Gesellschaft wie in den USA. „Wir sind schon ein wenig auf dem Weg dahin“, warnte sie abschließend.

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