Schauspielerin: Es ist wichtig, keine Berührungsängste zu haben

Annalisa Weyel hat gehörlose Eltern: „Krass getrennte Welten“

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Im Fernseh-Krimi „Blind ermittelt“ aus Wien hat sie kürzlich eine gehörlose Zeugin gespielt - auch, weil sie die Gebärdensprache perfekt beherrscht: Annalisa Weyel (22) ist mit gehörlosen Eltern aufgewachsen.

Frau Weyel, in „Blind ermittelt“ spielen Sie eine gehörlose junge Frau. War das für Sie herausfordernd? Schließlich sind Sie durch Ihre gehörlosen Eltern in dieser Lebenswelt aufgewachsen …

Die Gebärdensprache ist wirklich meine Muttersprache, ich bin ganz selbstverständlich in der Gehörlosenkultur aufgewachsen. Das ist mir viel näher als die Lautsprache und die Kultur der Hörenden. Trotzdem hätte eine gehörlose Schauspielerin die Rolle sicher anders gefüllt. Ich bin in jedem Fall dafür, dass alle gehörlose Rollen von gehörlosen Schauspieler*innen gespielt werden sollten. 

Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wird Vieles mit Untertiteln für gehörlose Menschen versehen. In Spielfilm oder Dokumentation kommen gehörlose Menschen – schätzungsweise 100.000 in Deutschland – aber nur sehr selten vor. Wie kann man das ändern?

Ich wünsche mir mehr Sichtbarkeit. In den Produktionsbüros und Vorständen sitzen nur sehr wenige Menschen mit Behinderungen. Deshalb kommen ihre Geschichten selten in die Drehbücher und in Vorschläge für Dokumentationen, Filme oder Serien. Wenn mehr Menschen mit Behinderung Drehbücher schreiben, entstehen auch mehr authentische Geschichten. Nicht gehörlose Menschen haben oft überhaupt keine Ahnung von der Welt der Menschen, die in ihren Geschichten vorkommen.   

Sie tragen auch selbst zu mehr Sichtbarkeit bei: Über Instagram und Tiktok haben Sie inzwischen über 35.000 Menschen die Gebärdensprache nähergebracht und geben auch Workshops. Wie kam es dazu?

Ich hatte schon als Kind eine gewisse Wut auf hörende Menschen und war frustriert, dass sie sich nicht mit dem Thema befassen und keine Gebärdensprache lernen. Irgendwann habe ich gemerkt: Das liegt nicht am Desinteresse, sondern daran, dass sie einfach gar keine Berührungspunkte mit Gehörlosen haben, und dass das so krass getrennte Welten sind. Nach meinem Abitur, zu Beginn der Corona-Zeit, wollte ich dagegen etwas machen. Ich habe dann zusammen mit meinen Eltern einen kostenlosen Workshop – ein Sensibilisierungskonzept – entwickelt. Darin laden wir Menschen ein, ein bisschen in diese Welt reinzukommen, gehörlose Menschen kennenzulernen und zu schauen, wie man sich verständigen kann. Es ging viel weniger um einen kompletten Gebärdensprachkurs, sondern eher darum, einen Berührungspunkt zu dem Thema herzustellen. Wenn man den findet, entwickeln viele ganz von selbst ein Interesse daran, die Sprache zu lernen und in die Welt der Gehörlosen einzutauchen. Über die Sozialen Medien kann ich so unglaublich viele Menschen erreichen.

Was kann jede und jeder im Umgang mit Gehörlosen oder schwerhörigen Menschen im Alltag tun?

Es ist vor allem wichtig, keine Berührungsängste zu haben. Unterwegs mit meinen Eltern erlebe ich immer wieder ähnliche Situationen: Eine Person fragt meine Mama nach der Uhrzeit. Dann merkt die Person, dass sie gehörlos ist, und geht oft direkt auf Abstand. Das finde ich sehr schade. Ich wünsche mir, dass Hörende Interesse zeigen und auch keine Ängste haben, in die Kommunikation zu gehen. Denn es gibt so viele Wege: Man kann Dinge aufschreiben oder versuchen, viel mit Gestik und Mimik zu sprechen. Auch über das Handy kann man mittlerweile viel machen, etwa einen Text einsprechen, der dann in einen Text umgewandelt wird.

Wie war das für Sie, als Kind gehörloser Eltern aufzuwachsen? Haben Sie eine Kindheit in Stille verbracht?  

Still ist es bei uns zuhause auf jeden Fall nie gewesen. Gehörlose Menschen machen ja auch Geräusche, nur hören sie die meistens nicht. Deswegen werden auch mal Türen geknallt und Schubladen zugeschmissen. Es wird sehr laut gelacht, also es ist nie leise. Viele gehörlose Menschen, auch meine Eltern, benutzen teilweise ihre Stimme. Gehörlos zu sein heißt also nicht, stumm zu sein. Für mich war es eine sehr besondere Art aufzuwachsen.

War das als Kind nicht manchmal belastend, weil Sie für die Eltern Alltagsdinge regeln mussten?

Ich habe auf jeden Fall gemerkt, dass unsere Gesellschaft eher behindertenfeindlich ist und behinderte Menschen auf vielen Ebenen diskriminiert werden. Für meinen Abiball zum Beispiel hat die Schule aus Kostengründen keine Gebärdendolmetscherin genehmigt. Ich musste das dann irgendwie selbst organisieren mit meinen Eltern. Das war total stressig. Solche Situationen gab es unendlich viele. Hörende Menschen setzen bei mir einfach voraus, dass ich für meine Eltern dolmetsche. Wenn wir beispielsweise im Restaurant sind, werden nicht meine Eltern nach ihren Wünschen gefragt, sondern ich. Das ist immer so ein bisschen eine Verschiebung der Verantwortung. Ich musste früher erwachsen werden.

Aber Sie haben auch viel fürs Leben gelernt.

Unbedingt. Ich sehe es als totale Bereicherung, dass ich mit der Gebärdensprache und in der Gehörlosenkultur aufwachsen konnte und die Kultur der Gehörlosen kennenlernen durfte, die ja sehr visuell ist. Das ist einfach eine ganz andere Welt. Damit bin ich auch mit einem sensibilisierten Bewusstsein – sowohl für Behinderungen als auch für verschiedene Lebenswelten und Sprachen – aufgewachsen. Das hat mir sehr viel gegeben, und ich finde das schön.

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