Themenwoche Zweites Vatikanisches Konzil (1)

Aufbruch und auch Verunsicherung - das bewirkte der „Geist des Konzils“

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Liberale wie Konservative in der Kirche berufen sich bis heute auf den „Geist des Konzils“. Der Euphorie während des Zweiten Vatikanischen Konzils vor 60 Jahren folgte Aufbruchstimmung, aber auch eine Zeit der Verunsicherung. Braucht es denn schon wieder eins?

„Das Konzil“ ist bis heute Fanal und Formel. Für die einen Sinnbild für eine weltoffene, den Problemen der Zeit zugewandte Kirche; für die anderen Symbol einer kirchlichen Anbiederung an den Zeitgeist und einer freiwilligen Aufgabe von Glaubenstradition. Dabei wirkt es wie ein Paradox der Kirchengeschichte, dass ausgerechnet mit dem Aufkommen der „Neuen Medien“ die Stimmen der Antimodernisten deutlich lauter geworden sind.

Über Chats, Blogs und einschlägige Internetportale wird die „Konzilskirche“ mit Verbalattacken in die Defensive getrieben. Die Diskussion über Traditionsbruch oder Kontinuität der dreijährigen Kirchenversammlung (1962-1965) überdeckt inzwischen die Debatte darüber, wie weit die Kirche in den vergangenen knapp 60 Jahren überhaupt bei der Umsetzung der Konzilsbeschlüsse gekommen ist.

Von der Seelsorge geprägtes Konzil

„Macht die Fenster der Kirche weit auf!“ Das Motto, das Papst Johannes XXIII. (1958-1963) laut einer unbestätigten Anekdote nach seinem Amtsantritt ausgab, ging als Weckruf durch die katholische Kirche. Zu stark hatte die sich zuvor von einer Welt in Aufruhr abgekoppelt.

Nun forderte der betagte Angelo Giuseppe Roncalli, eigentlich als „Papst des Übergangs“ gedacht, die Sensation: ein „aggiornamento“, eine Wiederannäherung der Kirche an die Erfordernisse der Zeit. Keine Verurteilungen wollte Johannes XXIII., keine neuen Dogmen, sondern ein von der Seelsorge geprägtes Konzil – dialogisch, nicht autoritär: eine Denkfabrik für die Fragen der Christen im 20. Jahrhundert.

Liturgische Erneuerung durch das Konzil

Der prächtige Einzug der rund 2.500 Konzilsväter in den Petersdom am 11. Oktober 1962 wurde auch zum Triumphzug des 80-jährigen Papstes, dessen Krebserkrankung bereits Schatten warf. Für das letzte Stück dieses Weges verließ er seine Sänfte – Symbol jenes kirchlichen Feudalismus, das erst Johannes Paul II. abschaffte – und ging zu Fuß: auf Augenhöhe mit den Problemen der Welt und der Weltkirche.

Die dreijährige, am Ende unberechenbare Versammlung führte zu tiefgreifenden Veränderungen. Etwa zu einer liturgischen Erneuerung mit Zurückdrängung der lateinischen Messe. Zu mehr Selbstbewusstsein der Ortsbischöfe gegenüber Rom und der Laien gegenüber den Bischöfen. Zu einer Bewusstwerdung von Weltkirche. Und zu einer ökumenischen Öffnung ohne Vorbild.

Keine Neuausrichtung ohne Widerstände

Eine Neuausrichtung solchen Ausmaßes ging aber keineswegs ohne Widerstände ab. Alsbald entspann sich ein heftiges Ringen zwischen „Bewahrern“ und „Progressiven“, unter denen sich vor allem die Nordeuropäer hervortaten. Dass die Reformbestrebungen nicht vornehmlich von einer kirchenpolitischen „Linken“ vorangetrieben wurden, sondern tatsächlich aus dem „Mainstream“ der Konzilsmehrheit entsprangen, belegt nicht zuletzt der Bauernsohn Johannes XXIII. selbst, dessen theologisch tief konservative Gesinnung niemand ernsthaft in Zweifel ziehen kann.

Aus der Wagenburg, in die sich Kirche und Päpste seit der Französischen Revolution in einseitigen Verurteilungen vor der Welt draußen verschanzt hatten, fanden die Konzilsväter durch Tausende Seiten Akten, Entwürfe und Änderungsanträge tastend den Weg zurück zu den Fragen der Menschen in der Moderne.

Neue Stars der Theologie

Das Konzil brachte „Stars“ der Theologie des 20. Jahrhunderts hervor: Schillebeeckx, Küng, König, Bea, Congar, Rahner, Ratzinger. Die „Bewahrer“ wurden dagegen zu Buhmännern abgestempelt, etwa Kardinalstaatssekretär Alfredo Ottaviani. „Die Deutschen“, die auf dem Konzil zu den Zugpferden der Reform gehörten, bekamen allerdings zunehmend Bedenken, vor den Karren der kirchlichen Linken gespannt zu werden – zumal aus der Heimat bereits immer weiter gehende Reformwünsche geäußert wurden.

Die teils scharfen Auseinandersetzungen der beiden Pole hielten bis zum letzten Tag des Konzils an – und sie setzen sich bis heute in Pfarreien und Pfarrsäle hinein fort. Beide Strömungen berufen sich auf den „Geist des Konzils“ – eine Folge auch der Not der Konzilsväter, angesichts der Flut der abzuarbeitenden Dokumente große Kompromisse selbst bei zentralen Formulierungen schließen zu müssen.

Aufbruch und Schisma

Der Euphorie des Konzils folgte ein Aufbruch, aber auch eine Zeit der Verunsicherung. Oft übers Ziel hinaus schießende Experimentierfreude im Gottesdienst und ein regelrechter Bildersturm gegen Kircheneinrichtungen und liturgische Kunstschätze trieb viele Katholiken in die Arme von Traditionalisten; etwa der „Priesterbruderschaft Pius X.“, die zentrale Konzilsbeschlüsse ablehnte und letztlich den Weg ins Schisma wählte. Die für viele traumatische „Revolution der 1968er“ bekräftigte sie in der Meinung, die Kirche habe sich zu sehr dem Zeitgeist angedient.

Eine These übrigens, die viele Kommentatoren auch als Interpretationsmuster für das Entgegenkommen des früheren Papstes Benedikt XVI. gegenüber den Piusbrüdern während seines Pontifikats bemühen: Der junge, aufbruchbereite Konzilstheologe Ratzinger habe – verschreckt von den Auswüchsen der neuen kirchlichen Freiheit und den Studentenrevolten – später der „Welt“ den Rücken gekehrt und sich der Verteidigung der Tradition zugewandt. Der sexuellen Revolution und den „68ern“ schrieb Benedikt XVI. auch als Emeritus mehrfach Verantwortung für Fehlentwicklungen zu.

Wohlmeinendere betonen, Benedikt stehe fest zum Konzil, das er mit geprägt habe. Allerdings stehe er nicht immer zu der liberalen Konzilsinterpretation in der westlichen Welt.

Neues Konzil gefordert

Angesichts mannigfacher Probleme fordern heute vor allem reformorientierte Katholiken schon ein neues Konzil. Papst Franziskus hat im Oktober 2021 einen weltweiten Synodalen Weg initiiert, für den – mit Hilfe der mehr als 100 nationalen und regionalen katholischen Bischofskonferenzen – Beiträge aus aller Welt gesammelt werden. Final soll eine Weltbischofssynode im Oktober 2023 im Vatikan beraten.

Die Geisteshaltung hinter diesem Projekt – eine zeitgemäße Ausrichtung und Verkündigung zu entwickeln – ist der Motivation von Johannes XXIII. Anfang der 1960er Jahre nicht unähnlich. Allerdings fehlt es einem so dialogisch ausgerichteten Prozess womöglich an kirchenrechtlicher Autorität, um eine ähnlich breite Wirkung erzielen zu können wie ein Konzil.

Korrektur 11. Okt.: Anders als im Original-Text der KNA angegeben (fünfter Absatz) hat erst Johannes Paul II. die Sänfte ("sedia gestatoria") endgültig abgeschafft. Wir haben den Text berichtigt.

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