Michael Kertelge über schwarze Schafe und einen „durchgeknallten Typ“

Auslegung der Lesungen vom 10. Sonntag im Jahreskreis (B)

Wieder einmal bringt Jesus alles durcheinander. Im Evangelium dieses Sonntags stößt er seine eigene Familie vor den Kopf - und die reagiert entsprechend. Michael Kertelge aus Lüdinghausen über die wahren Verwandten Jesu.

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Wieder einmal bringt Jesus alles durcheinander. Im Evangelium dieses Sonntags stößt er seine eigene Familie vor den Kopf - und die reagiert entsprechend. Michael Kertelge aus Lüdinghausen über die wahren Verwandten Jesu.

„Als Gott am sechsten Schöpfungstage alles sah, was er gemacht hatte, war zwar alles gut, aber dafür war auch die Familie noch nicht da“, schreibt Kurt Tucholsky (1890-1935). Damit spielt er auf die große Widersprüchlichkeit beim Thema Familie an, die sich durch die Sonntagslesungen zieht.

Drei große Teile hat das Evangelium dieses Sonntags: 1. Auszug der Seinen mit dem Vorhaben, Jesus zurückzuholen, 2. Schriftgelehrte Vorwürfe und deren Wiederlegung, und 3. Ankunft der Verwandten und Jesu Belehrung über seine „wahren“ Verwandten.

Im Evangelium kommen zumindest einige private Fakten von Jesus und seiner unmittelbaren Familie vor; sogar von Brüdern und Schwestern ist im griechischen Text die Rede. Es wäre also alles gegeben für eine klassische „Homestory“, wie wir sie in den bunten Blättern zuhauf finden. Solche Geschichten haben Konjunktur.

 

Spezielle „Homestory“

 

Das Evangelium vom 10. Sonntag im Jahreskreis (B) zum Hören und Sehen auf unserem Youtube-Kanal.

Bei der Familie des Zimmermanns Josef, seiner Frau Maria und ihrem Sohn Jesus dagegen findet man relativ wenig für so eine „Homestory“. Obwohl das „schwarze Schaf“ der Familie, Jesus, eigentlich alles dazu bereit hält. Bereits 30 Jahre alt und immer noch nicht verheiratet. Jesus hatte seit dem Anfang seines öffentlichen Auftretens für gehörigen Wirbel gesorgt. Er trat in Synagogen auf, trieb Dämonen aus, besuchte öffentliche Sünder, speiste mit ihnen, heilte Kranke auch am Sabbat, verstieß wiederholt gegen geltende religiöse Vorschriften. Das Volk lief ihm nach, wo immer er sich blicken ließ.

In unserem Sonntags-Evangelium kommen so viele Leute zusammen, „dass er und die Jünger nicht einmal mehr essen konnten“. Was dann von Jesus Christus berichtet wird, ist schon sehr ungewöhnlich. In der Übersetzung der „Volxbibel” heißt es sogar, Jesu Familie dachte „er wäre irgendwie total durchgeknallt“. Dass Jesus von seiner eigenen Familie als „verrückt“ angesehen wurde, ist so ungeheuerlich, dass Schriftausleger und Übersetzer anstelle von „Er ist verrückt“ abschwächende Übersetzungen einfügen. Jesus legt sich mit seiner Familie und der religiösen Führung an.

 

„Che Guevara der Reihenhäuser“?

 

Der Autor
Michael KertelgeMichael Kertelge ist Pastoralreferent in St. Felicitas in Lüdinghausen und Seppenrade. | Foto: privat

Er ist kein „Che Guevara der Reihenhäuser“. Sein Ansatz ist wirklich radikal! Deshalb schüttelt er die Vorwürfe der Schriftgelehrten, „Er ist von Beelzebul besessen“ argumentativ schnell ab. Erstens: Warum sollte Satan gegen sich selber kämpfen? Zweitens: Gespaltene Mächte oder Familien gehen unter, haben „keinen Bestand“. Doch Jesus spürt schon: Damit erreicht er die religiösen Führer nicht. Er stellt ihr Wahrheitssystem in Frage, ihren Machtanspruch und gerät damit zwischen alle Stühle.

Auch mit seiner eigenen Familie geht er radikal um. Der Wanderprediger Jesus war seiner Familie wohl schlicht peinlich. Nachdem gutes Zureden bei ihm nicht fruchtet, soll er nun mit Gewalt nach Hause gebracht werden. Ein klassischer Familienkonflikt in der ansonsten so „heiligen Familie“. Jakobus und Maria, die später zu den Säulen der Jerusalemer Gemeinde zählen, bekleckern sich hier nicht mit Ruhm.

 

Schroffe Töne für Verwandte

 

Jesus geht ungewöhnlich schroff mit seiner Verwandtschaft um, sie müssen Jesu neue Rolle erst lernen. So sitzt er mit fremden Menschen im Haus. Seine eigene Mutter, seine Schwestern und Brüder sind im wahrsten Sinne des Worts „draußen“, starker Tobak. Relativierung der Familie durch Ethik, hat das jemand mal genannt. Zugleich eine ungeheure Befreiung. Die Menschen, die es in ihren Familien schwer haben, sehen bei Jesus die Bande des Blutes relativiert. Und was ist nicht alles in unserer Geschichte im Sinne des Blutes veranstaltet worden! Zig Millionen Tote des nationalsozialistischen deutschen Rassenwahns sind beredtes Zeugnis.

Als seine Mutter samt Geschwistern gemeldet werden, sagt er: „Wer den Willen Gottes erfüllt, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.“ Insofern sind die „wahren“ Verwandten Jesu die Krüppel, die Blinden, die Lahmen, die Verlierer unserer Gesellschaft, die Kranken, die Schwachen und Einsamen um ihn. Wer sich für sie einsetzt, gehört zu Jesu Familie.

 

Die Heiligen von nebenan

 

Ethik ist wichtiger als Dogmatik. Und das „Tun“ ist das Entscheidende, wie Papst Franziskus in seinem Schreiben „Gaudete et Exultate“ betont. Er nennt Menschen, die sich so einsetzen, die „Heiligen von nebenan“ (Nr. 12). Besonders die Frauen hat er im Blick. Er spricht ausdrücklich von den „weiblichen Stilen der Heiligkeit“ (Nr. 14).

Als „Heilige von Nebenan“ sind wir „nicht auf der Erde, um ein Museum zu hüten, sondern um einen Garten zu pflegen, der von blühendem Leben strotzt und für eine schöne Zukunft bestimmt ist“, so äußerte sich einmal Papst Johannes XXIII.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 10. Sonntag im Jahreskreis (B) finden Sie hier.

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