Thorsten Brüggemann: Das Risiko der Barmherzigkeit

Auslegung der Lesungen vom 10. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr A

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Liebe und Barmherzigkeit fordert Gott vom Volke Israel. Auch von uns fordert Jesus Christus diese Attribute im menschlichen Miteinander ein. Dies gilt es zu üben, sagt Pfarrer Thorsten Brüggemann und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

Wer sich an ein Versicherungsunternehmen wendet, der möchte in der Regel ein gewisses Risiko, das ihm oder ihr durch widrige Umstände widerfahren könnte, minimieren. Versicherungsunternehmen haben sich darauf spezialisiert, gegen eine gewisse Prämie Risiko zu übernehmen, oder, wie es im „Versicherungsdeutsch“ heißt, „in Deckung zu nehmen“, um es so für den Versicherungsnehmer, die Versicherungsnehmerin zu minimieren. Das Versicherungsunternehmen wird so zu einem verlässlichen Partner.

Was uns modernen Menschen die Versicherung, das ist dem Menschen der antiken Welt das Opfer. Das eigene Sicherheitsinteresse steht dabei sehr stark im Vordergrund. Der opfernde Mensch will sich sein Heil sichern. 

Das Volk Israel in Bedrängnis

Das alttestamentliche Buch Hosea berichtet vom in Bedrängnis geratenen Volk Israel. Wirtschaftlicher Aufschwung, Wohlstand und Frieden wenden sich. Das Nordreich Israel wird von der übergroßen Macht der Assyrer, die sich schon ganze Nachbarländer, darunter auch große Teile Israels, einverleibt haben, in seiner Existenz bedroht, sodass der Prophet Hosea um sein Volk kämpft und ringt. Er versucht den Zerfall des Gottesvolkes und den damit verbundenen Untergang Israels zu verhindern. 

In diesem Kontext überliefert die Lesung dieses Sonntags einen Teil eines Bußgebetes des Volkes, von dem man meinen könnte, dadurch sei dann alles wieder in bester Ordnung. Das Volk setzt auf ein bewährtes Gebetsopfer, weil es Gott als einen verlässlichen Partner ansieht, so wie eine Lebensversicherung. Schnell kommt die große Gewissheit, dass es schon funktionieren wird. Die Rettung scheint sicher. Gott selbst wird schon dafür sorgen, dass sein auserwähltes Volk nicht untergeht. Er ist schließlich der verlässliche Partner. Ebenso sicher, wie das Morgenrot und der Frühjahrsregen kommen. 

Gott fordert Liebe und Barmherzigkeit

Gott aber scheint nur mit dem Kopf zu schütteln, vielleicht sogar ein wenig verzweifelt zu sein: „Was soll ich tun mit dir…?“. Also kein Opfer, keine Versicherung, kein Sicherheitsgefühl? So nach dem Motto: ich habe geopfert und damit eingezahlt, also bitte nun auch die Leistung, das Heil!

Aber so scheint es nicht zu laufen. Gott liefert nicht die gewünschte Sicherheit und minimiert damit das Risiko. Ganz im Gegenteil. Er fordert etwas ganz Unsicheres, vielleicht sogar das Unsicherste, das es gibt: Liebe und Barmherzigkeit. Wer Liebe und Barmherzigkeit wagt, der weiß nicht, ob er damit auch gewinnt. Wer Liebe und Barmherzigkeit einbringt, der weiß nicht, ob er es je zurückbekommt. Liebe und Barmherzigkeit sind dann wohl eher ein Risikogeschäft, als eine gute Absicherung.

Jesus geht Risiko der Barmherzigkeit ein

Der Autor
Pfarrer Thorsten Brüggeman
Thorsten Brüggemann ist Leitender Pfarrer in der Pfarrei St. Agatha in Gronau-Epe. | Foto: privat

„Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!“, sagt Jesus im Rückgriff auf das alttestamentliche Prophetenwort ziemlich eindeutig, und weiß wohl um das Risiko, denn er fügt dem die Forderung des Lernens voran: „Darum lernt, was es heißt: …“.  Lernen, was es heißt, barmherzig zu sein, können wir am Beispiel Jesu im Evangelium von der Berufung des Matthäus und dem Mahl mit den Zöllnern. Vielleicht überrascht es, dass Barmherzigkeit auch heißen kann, ein festliches Mahl zu feiern. Denn beim gemeinsamen Mahl kann Jesus den Menschen, den Zöllnern und Sündern, also beides Menschengruppen, mit denen man lieber nichts zu tun haben möchte, begegnen; ja mehr noch auf Augenhöhe wahrnehmen. Und das ohne Bewertung oder Vorverurteilung.

Was für ein Risiko! Jesus gibt diese Menschen nicht auf, sondern geht das Risiko der Liebe und Barmherzigkeit ein, obwohl alle um ihn herum zu wissen meinen, dass diese Menschen es nicht wert sind; obwohl Jesus nicht weiß, ob seine Liebe und Barmherzigkeit überhaupt gewollt ist und angenommen wird.

Ein schwerer Glaubensvollzug

Diese Verhaltensweise Jesu dürfen wir lernen. Liebe und Barmherzigkeit zu wagen und zu üben, auch wenn sie mit großem Risiko verbunden sind. Und wahrscheinlich ist das oft einer der schwersten Glaubensvollzüge. Und Hand aufs Herz: Stecken nicht der Absicherungsgedanke und das ständige Abwägen des Risikos viel zu tief in uns, bevor wir uns mit Liebe und Barmherzigkeit in eine Sache oder in einen Menschen investieren?

Da tut es gut, sich die eindringlichen Worte des Propheten Hosea „Liebe will ich, nicht Schlachtopfer“ und die des Jesus „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer“, sagen zu lassen. Dieser Sonntag ist eine Einladung, Liebe und Barmherzigkeit als ein Risiko zu üben und zu leben.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 10. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) finden Sie hier.

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