Anzeige
Oft stecken wir Menschen in Schubladen, sagt Lukas Hermes. Das ist schön einfach. Doch der Bocholter Kaplan warnt vor den Gefahren des Schubladendenkens.
Oft stecken wir Menschen in Schubladen, sagt Lukas Hermes. Das ist schön einfach. Doch der Bocholter Kaplan warnt vor den Gefahren des Schubladendenkens.
Es braucht nur wenige Sekunden und wir haben uns eine Meinung über unser Gegenüber gebildet. Ist er mir sympathisch oder eher nicht? Manchmal sind unsere Meinungen sogar so festzementiert, dass wir meinen, den anderen genau zu kennen, obwohl wir noch kein einziges Wort mit ihm gewechselt haben. Wie schwer ist es dann, das wahre Ich zu erkennen?
Wortlose Kommunikation mag wohl bei sehr guten Freunden oder jahrelang verheirateten Ehepartnern funktionieren, aber bei flüchtig Bekannten eher selten. Dennoch ist bei uns schnell der Gedanke da: Den kenne ich doch, der braucht mir gar nichts zu erzählen.
Das ist ungeheuer bequem für mich
Das Evangelium vom 14. Sonntag im Jahreskreis (B) zum Hören und Sehen auf unserem Youtube-Kanal.
Ich erwische mich manchmal dabei, wie ich Menschen fein säuberlich in Schubladen einsortiere. Das ist zunächst einmal ungeheuer bequem für mich und macht das Leben sehr einfach. Ich brauche mir keine weiteren Gedanken mehr zu machen oder zuzuhören, da ich meine, mein Gegenüber schon genauestens zu kennen.
Das klappt nicht nur bei Menschen, sondern auch sehr gut bei Dingen. Zum Beispiel haben heutzutage viele Menschen ein festes Bild über die Kirche. Oft werden Christen nur noch milde belächelt. Getreu dem Motto: Das ist deren Privatangelegenheit, aber für mich ist das nichts – zu mir passt das nicht. Manchmal stecken eigene negative Erfahrungen dahinter, manchmal aber nur Hörensagen.
Die Kirche in der Schublade
Verdenken kann ich es ihnen nicht, denn wenn man gelegentlich etwas von uns in den breiteren Medien hört, ist das oft nichts Gutes. Da fühlen wir uns sicherlich schon mal wie der Prophet Ezechiel in der Lesung. Er erhält in einer Erscheinung vom Herrn den Auftrag zu den „abtrünnigen Söhnen Israels“ zu gehen.
Man würde sicherlich heute sagen, dass er zu denen gehen soll, die „eh mit der Kirche nicht viel am Hut haben“. Ihnen soll Ezechiel die Botschaft Gottes verkünden und sie dadurch zu einer moralischen Erneuerung bewegen. Das war wohl zur damaligen Zeit genauso schwer wie heute. Die Menschen hatten und haben vorgefertigte Bilder über Gott und erst recht über jeden einzelnen Menschen.
Das Bild neu malen
Ein solches Bild neu zu malen, ist unglaublich schwer. Was aber, wenn mein Gegenüber gar nicht in die angedachte Schublade passt, weil er sich weiterentwickelt hat, eine neue Seite in seinem Leben entfalten möchte oder schon von Anfang an da nicht hineingehörte? Es ist nur sehr schwer für ihn, da wieder herauszukommen.
Jesus erfährt im Evangelium genau das Gleiche am eigenen Leib. Als er nach langer Zeit wieder in seine Heimatstadt kommt, hört er genau das: „Wer ist das denn? Ist das nicht der Sohn des Zimmermanns? Die Familie kennen wir und vor allem den kennen wir auch!“ Auch über Jesus gab es damals ein Schubladendenken.
Was sich nicht entwickelt, geht ein – auch Beziehungen
Der Autor
Durch Ezechiel wissen wir, dass diese Gefahr wohl schon so alt ist wie die Menschheit selbst. Ich sage bewusst Gefahr. Es ist eine Gefahr, sich nicht frei entwickeln und entfalten zu können, ja leben zu können. Denn Leben ist Entwicklung und Wachstum des eigenen Ichs. Wo Menschen auf ihre Rolle festgelegt werden, können sie sich nicht mehr frei entfalten. Sie sterben und mit ihnen Freundschaften und Beziehungen.
Die Blumen im Garten meiner Oma zum Beispiel wachsen und verändern sich jeden Tag. Wollte ich sie daran hindern, sie würden eingehen. Im Evangelium wird uns geschildert, dass Jesus keine Wunder zu Hause wirken konnte. Die Beziehung zwischen ihm und den Menschen war gestorben. Es konnte sich dort nichts mehr ereignen. Somit kann Leben nur gelingen, wenn ich mich immer wieder neu auf mein Gegenüber einlasse und es zulasse, dass stets neue Seiten zu entdecken sind – bei meinen Mitmenschen, aber auch bei Jesus Christus selber.
Das Handicap des Paulus
Gott will gehört werden. Das zeigt sich noch einmal sehr schön in der Ezechiel-Lesung. Er gibt sich nicht mit einer von uns vorgefertigten Meinung zufrieden. Auch wenn seine Botschaft stört, unbequem ist oder quersteht zu unseren Überzeugungen. Diese Erfahrung macht auch der Apostel Paulus in der Lesung aus dem zweiten Korintherbrief. Er spricht von einem persönlichen Handicap. Seine Gebetsbitte, davon befreit zu werden, wurde zwar nicht erhört, aber er hat die Zusage, dass Gott ihm in seiner Schwachheit beisteht.
Zugegeben, das alles macht das Leben nicht einfacher, eher sogar anstrengender in der Beziehung zu einem Menschen und zu Gott selber. Denn mir wird bewusst, dass ich wohl nie diese beiden Wesen zu Ende denken oder erforschen kann, da ich sie stets neu entdecken muss. Eine gute und tragende Beziehung ist kein Zustand. Sie ist Bewegung und Veränderung.
Sämtliche Texte der Lesungen vom 14. Sonntag im Jahreskreis (B) finden Sie hier.