Holger Ungruhe aus Münster über einen Propheten namens Christian

Auslegung der Lesungen vom 2. Adventssonntag (Lesejahr A)

Ein großer Prophet steht an der Schwelle vom Alten zum Neuen Testament: Johannes der Täufer. Dass es auch heute kraftvolle Propheten gibt, erzählt Holger Ungruhe aus Münster in seiner Auslegung der Sonntagslesungen.

Anzeige

Ein großer Prophet steht an der Schwelle vom Alten zum Neuen Testament: Johannes der Täufer. Dass es auch heute kraftvolle Propheten gibt, erzählt Holger Ungruhe aus Münster in seiner Auslegung der Sonntagslesungen.

In jedem Jahr sind Priester in unserem Bistum eingeladen zur Teilnahme an einer Fortbildung. Gemeinsam mit den Mitbrüdern, die 2011 mit mir die Priesterweihe empfangen haben, war ich in diesem Jahr dazu in Berlin. Zu diesen Fortbildungen gehört immer auch ein geistlicher Tag. Wir hatten dafür einen beeindruckenden Jesuiten eingeladen, Pater Christian Herwartz.

Er lebte über viele Jahre in einer WG in Berlin-Kreuzberg, gemeinsam mit Menschen, die – aus welchem Grund auch immer – ein Bett und ein Dach über dem Kopf benötigen. Neben diesem Einsatz für Obdachsuchende hat er lange als Arbeiterpriester für Umzugsunternehmen und in Fabriken gearbeitet.

 

Pudelwohl, wo Kirche nicht ist

 

Die Lesungen vom 2. Adventssonntag (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

Christian ist ein besonderer Typ. Er passt in kein Schema und ich tue ihm bestimmt nicht Unrecht, wenn ich schreibe, dass er sich mit klassischen kirchlichen Strukturen schwertut. Für mich hatte er aber etwas Prophetisches. Er fühlt sich dort pudelwohl, wo die Kirche und ganz selbstkritisch gesprochen auch Priester eben oft nicht sind, am vielzitierten Rand der Gesellschaft, zu dem uns auch der Papst immer wieder schickt und der doch oft so schwer erreichbar scheint.

Christian hat etwas Prophetisches, da er darauf hinweist, wohin uns Jesus sendet und wo er zu finden ist, einsam und erstickend an einem Kreuz, in einer erbärmlichen Krippe und in den Gerings­ten, die zu Nächsten werden.

Ein Prophet am Rande tritt auch im Evangelium dieses Sonntags auf, Johannes der Täufer. Auch er passt in seinem Kamelhaarmantel und mit seinem Speiseplan, mit Heuschrecken als wesentlichem Bestandteil, nicht in ein Schema und erst recht nicht in den Jerusalemer Tempel mit seinen sehr festen Riten und Ordnungen. Deshalb ist sein Platz die Wüste und seine Kanzel der Jordanstrand.

 

Gott lebt auf der Straße

 

Das Thema von Johannes ist Umkehr. Ich bin mir sicher, dass dieses Thema auch heute unter den Nägeln brennt: Umkehr, Zuwendung zu dem, was wirklich wichtig ist, was Gottes Auftrag und Wille ist.

Holger Ungruhe.
Holger Ungruhe ist Koordinator der Berufungspastoral im Bistum Münster. | Foto: Michael Rottmann

Alle Propheten leben aus einer besonderen Gottesbeziehung, auch da unterscheiden sich die biblischen Propheten nicht von denen, die uns heute begegnen können. Sie helfen uns zu erkennen, wo Gott zu finden ist, und manchmal sogar dabei zu entdecken, was sein Plan für unser Leben ist. Auch hier ist das Thema ja im Letzten Umkehr, Zuwendung zu dem, was Gott für uns bereithält.

Christian Herwartz bietet seit vielen Jahren dafür mit einem Team „Exerzitien auf der Straße“ an. Der Gedanke dahinter ist einfach und doch beeindruckend: Der Gott der Bibel ist der Gott auf den Straßen dieser Erde. Es gilt ihn zu entdecken und wie Mose zu erleben: „Der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (Ex 3,5). Deshalb geht man in diesem Projekt als Gottsucher auf die Straße und nicht in ein Kloster oder Exerzitienhaus.

 

Exerzitien am U-Bahnhof

 

Auf einen Einkehrtag nach eben diesem Konzept haben wir uns in Berlin also eingelassen. Und seit diesem Tag hat das prophetische Thema Umkehr für mich einen weiteren Aspekt hinzugewonnen. Ich startete morgens an unserer Unterkunft und stand bald schon auf einem U-Bahnhof. Eine Frau fragte mich, wie sie zu einer bestimmten Haltestelle komme. Ich schaute mit ihr auf die Karte, und wir stellten fest, dass das Ziel von diesem Bahnsteig aus nur mit einem erheblichen Umweg zu erreichen ist. „Ich muss es lernen,“ sagte sie lächelnd, stieg in die Bahn und gönnte sich eine extra lange Bahnfahrt durch die Stadt.

Ihr Satz hat mich an diesem Tag und in der Folge nicht mehr losgelassen. Ich neige nämlich dazu, meinen Kalender eng zu takten und solche Umwege nicht zuzulassen. Konsequenz: Schnell bleibe ich auf den bekannten Gleisen, im gleichen Schema.

 

Nur Mut zum Ausprobieren!

 

Umkehr braucht aber vor allem Zeit, Muße und Mut etwas auszuprobieren, etwas zu wagen. Ruckartige Veränderungen ereilen schnell das gleiche Schicksal wie Vorsätze an Neujahr. Denn wer kann schon behaupten, dass der Plan Gottes mit uns so leicht zu entschlüsseln ist wie ein Fahrplan? Ist der erste Schritt nicht Neugier und das Vertrauen, dass noch so viel heiliger Boden zu entdecken ist?

Die Frau verabschiedete sich bei mir und bedankte sich etwas überschwänglich für meine Hilfe. Ich frage mich, wer wem wirklich geholfen hat. Ich wünsche uns in dieser Adventszeit viele Prophetinnen und Propheten, die uns helfen zu entschleunigen und umzukehren, mit Neugier und Faszination Gott zu suchen.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 2. Adventssonntag (Lesejahr A)  finden Sie hier.

Anzeige