Christoph Kleine über Regeln und das Zusammenleben der Religionen

Auslegung der Lesungen vom 22. Sonntag im Jahreskreis (B)

Der Ruf nach Recht und Ordnung wird wieder lauter. Klar: Wo Menschen leben, braucht es Regeln. Auf welche es Jesus besonders ankommt und welche Aufgabe besonders Christen für ein friedliches Miteinander haben, erklärt Christoph Kleine aus Herten.

Anzeige

Der Ruf nach Recht und Ordnung wird wieder lauter. Klar: Wo Menschen leben, braucht es Regeln. Auf welche es Jesus besonders ankommt und welche Aufgabe besonders Christen für ein friedliches Miteinander haben, erklärt Christoph Kleine aus Herten.

In Deutschland sind wir es gewohnt, uns an Gesetze zu halten. Also meistens zumindest, kommt auf die Regel an. In der Regel halten wir uns aber an die Regel, auch wenn wir wissen, dass Gesetze nicht unfehlbar sind und wieder geändert werden können. Auf unser Grundgesetz sind wir aber zu Recht stolz.

Neben den geschriebenen Gesetzen gibt es auch unsere alltäglichen Verhaltensregeln. So lernt man bei uns schon früh, dass bestimmte Rasenflächen nicht betreten werden dürfen und dass man beim Essen nicht mit vollem Mund spricht. Bei uns wird selbstverständlich erwartet, dass man zu einer Verabredung pünktlich kommt. All diese Regeln und die staatlichen Gesetze ermöglichen und erleichtern das Zusammenleben.

 

Ganz normal: ein Kind fährt Motorrad – ohne Helm

 

Das Evangelium vom 22. Sonntag im Jahreskreis (B) zum Hören und Sehen auf unserem Youtube-Kanal.

In diesem Frühjahr war ich in Kolumbien und wohnte für ein paar Tage in einem kleinen Fischerdorf an der karibischen Küste. Das tägliche Leben ist dort ganz anders als bei uns. Dort ist es völlig normal, wenn plötzlich zehn Leute unangemeldet zu Besuch kommen oder wenn ein Zwölfjähriger mit seinem sechsjährigen Bruder auf dem Motorrad fährt. Ohne Helm natürlich. Regeln im Straßenverkehr konnte ich eh nicht feststellen, und eine Nachtruhe scheint es auch nicht zu geben. Trotzdem hatte ich den Eindruck, dass das Zusammenleben dort reibungslos funktioniert. 

Wir leben in einer anderen Welt. Im Gegensatz zum karibischen Fischerdorf, wo jeder jeden kennt und fast alle miteinander verwandt zu sein scheinen, leben in unseren Städten Menschen aus allen Ecken der Welt. Ich wohne und arbeite in Herten im Ruhrgebiet. Dort leben Menschen aus über 110 Ländern zusammen. Hier stoßen die verschiedensten Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Vorstellungen von Recht aufeinander.

In diesem Zusammenhang stellt sich mir die drängende Frage: Wie kann ein friedliches Miteinander gelingen? Genügen die Gesetze, die von Vertreterinnen und Vertretern der Bevölkerung erlassen werden?

 

Der Grund aller Gesetze

 

Im heutigen Evangelium lesen wir dazu folgendes: „Der Prophet Jesaja hatte Recht mit dem, was er über euch Heuchler sagte: Dieses Volk ehrt mich mit den Lippen, sein Herz aber ist weit weg von mir. Es ist sinnlos, wie sie mich verehren; was sie lehren, sind Satzungen von Menschen. Ihr gebt Gottes Gebot preis und haltet euch an die Überlieferung der Menschen.“

Ich möchte diese Worte nicht dazu missbrauchen, menschliche Gesetze zu relativieren und ihren Wert zu schmälern. Ich weiß, dass Gesetze wichtig sind und ich bin dankbar, in einem Land zu leben, in dem Gesetze ein geordnetes Leben ermöglichen. Jesus weist mit seinen Worten auf den Ursprung des Gesetzes hin: Der eigentliche Gesetzgeber ist Gott selbst. Natürlich nicht im Sinn einer weltlichen Macht. Jesus will keinen Gottesstaat errichten. Ihm geht es auch nicht darum, einen Gott zu verkünden, der das menschliche Leben bis ins Detail regelt.

 

Eine Regel für alle Religionen

 

Unser Autor
Christoph KleineChristoph Kleine ist Pastoralreferent in St. Antonius, Herten. | Foto: privat

Aber: Jesus ist überzeugt, dass Gott der Ursprung aller Ordnung ist. Verliert man diesen Ursprung aus den Augen, ist auch das gesellschaftliche Leben gefährdet. Sowohl im Alten als auch Neuen Testament lesen wir, dass Gott sein Gesetz dem Menschen ins Herz geschrieben hat. Wenn Menschen unterschiedlicher Religionen tief in ihre Herzen schauen, stoßen sie oft auf die gleichen Überzeugungen. So finden wir zum Beispiel in allen heiligen Büchern der Weltreligionen die so genannte Goldene Regel: „Behandle andere so, wie du von ihnen behandelt werden willst.“

Ich bin der Überzeugung, dass mit der steigenden Vielfalt unserer Gesellschaft die Besinnung auf den Ursprung aller Ordnung immer wichtiger wird. Es geht heute darum, in allen Religionen jene tiefen Wurzeln zu entdecken, die einem friedlichen Leben unter den Menschen Kraft geben. Die Angst vor der Religion anderer hilft uns dabei nicht weiter, sondern Kenntnis und Wertschätzung.

 

Die besondere Aufgabe der Christen

 

Wir Christen in Europa haben dabei eine besondere Aufgabe und Verantwortung, weil durch 2000 Jahre Christentum bei uns Werte wie Toleranz, Gesprächsbereitschaft und Achtung vor der Würde des Menschen tief verwurzelt sind. Diese Jahre waren zwar auch geprägt von unzähligen Krisen, Kriegen und Konflikten, aber wir haben dabei mühsam gelernt, miteinander in einen Dialog zu treten und tolerant anderen Denkweisen gegenüber zu sein.

Ähnliche Werte gilt es in anderen Religionen zu entdecken und zu fördern. So können wir einen qualifizierten Beitrag für das gesellschaftliche Leben in einer vielfältigen Welt leisten. Es genügt nicht, Gesetze zu erlassen und sie zu befolgen. Wir sind aufgefordert, nach der Quelle aller Ordnung, nach dem Ursprung des Gesetzes zu forschen und unserem Innersten, dem Gewissen, zu folgen.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 22. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B) finden Sie hier.

Anzeige