Pater Daniel Hörnemann: Ist da jemand zum Anschreien?

Auslegung der Lesungen vom 22. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A)

„Du hast mich missbraucht und ich ließ mich missbrauchen, du hast mir Gewalt angetan und ich ließ mir Gewalt antun.“ Was es mit diesen füchterlichen Bibelworten auf sich hat, sagt Pater Daniel Hörnemann aus der Abtei Gerleve in seiner Schriftauslegung.

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„Du hast mich missbraucht und ich ließ mich missbrauchen, du hast mir Gewalt angetan und ich ließ mir Gewalt antun.“ Harte, schrecklich aktuell klingende Worte begegnen in den Lesungen dieses Sonntags. Was es damit auf sich hat, sagt Pater Daniel Hörnemann aus der Abtei Gerleve in seiner Schriftauslegung.

Doch nicht schon wieder! Von Missbrauch haben wir doch in Kirche und Gesellschaft über die Maßen gehört. Vor zehn Jahren haben mutige Opfer sexueller Gewalt die unheimliche Macht des Wegschauens und Vertuschens gebrochen – nicht selten um den Preis, dass alte Wunden wieder aufbrachen. Abgründe taten sich auf, was Menschen einander und vor allem Schwächeren antun können.

Der Prophet Jeremia spricht von einem weiteren Missbrauchsfall, aber das fällt kaum auf. Daran ist die abgemilderte Übersetzung schuld: „Du hast mich betört“ – das könnte genauso gut in einer Reklame für Pralinen oder Parfum oder in einem Liebesgedicht stehen. Betören – das Wort weckt Assoziationen wie „bezirzen, schmeicheln, in den Bann ziehen, umgarnen, verführen, verzaubern“. Faszination bis zur Erregung, Verlockung bis zum Geblendetsein. Auch das mag in einer Beziehung zwischen Mensch und Gott übertragen gelten.

 

Ein Gott, der vergewaltigt?

 

Die Lesungen vom 22. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) zum Hören finden Sie hier.

Die Aussage bei Jeremia geht jedoch über eine Liebesbeziehung weit hinaus. Er beschreibt in drastischen Bildworten, wie er sich fühlt: „Du hast mich missbraucht und ich ließ mich missbrauchen, du hast mir Gewalt angetan und ich ließ mir Gewalt antun.“ Verführt, betrogen, vergewaltigt. Wer von uns spricht schon so direkt, hart, unverhohlen mit seinem Gott?

Jeremia macht jedenfalls aus seinem Herzen keine Mördergrube. Seine tiefe Klage mit ihrer scharfen Gottesanrede erscheint manchen gar als Blasphemie. Doch seine Ehrlichkeit ist Ausdruck einer tiefen Beziehung, die auch Klage und Anklage aushält. Jeremia fühlt sich in eine Berufung hineingezogen, die intensiver und schwieriger ist, als Gott ihn zunächst vermuten ließ. Gott hat ihn zwischen die Fronten geraten lassen, Jeremia sieht sein Leben fast zwischen zwei Mühlsteinen zerrieben.

 

Gottes harte Botschaft

 

Auf der einen Seite die Menschen, zu denen er gesandt wurde, die aber von seinem Gotteswort nichts wissen wollen, sondern ihn zum Gespött machen und sogar sein Leben in Gefahr bringen. Auf der anderen Seite der Gott, der ihn als seinen Boten in die Schusslinie gestellt hat.

Ein klassisches Dilemma, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint. Er leidet, wenn er Gottes Wort nicht sagt, und er leidet, wenn er es sagt. Weil er es verkörpert, erleidet er das Schicksal des Wortes. Wenn er dem Volk, das seine Identität zu verlieren droht, Gottes harte Botschaft überbringt, erfährt er Widerspruch und Verfolgung. Wenn er mit der Verkündigung aufhört, brennt das Wort in seinem Inneren wie verzehrendes Feuer.

 

Gott lässt nicht von ihm

 

Der Autor
Pater Daniel Hörnemann
Pater Daniel Hörnemann OSB ist Mönch der Benediktinerabtei Gerleve bei Billerbeck und Theologischer Berater von "Kirche+Leben". | Foto: Markus Nolte

So oder so gestaltet sich sein Leben furchtbar. Jeremia sträubte sich von Anfang an dagegen, ein Prophet zu werden, dennoch nahm Gott ihn mit Gewalt in seinen Dienst. Jeremia kann nicht von Gott lassen, weil Gott nicht von ihm lässt. Er erfährt einen Gott, der ihn erschauern und erzittern lässt, der ihn aber auch unablässig fasziniert und anzieht. Jeremia erleidet Gewalt auf beiden Seiten, von Gott her wie von den Menschen. Kein Wunder, dass er reagiert, protestiert und seine Erregung hinausschreit.

Die Jeremialesung ist nicht nur für Gottes „Bodenpersonal“ als Hilfe in Berufungskrisen gedacht. Die Heilige Schrift nimmt uns hier mit in eine Ausdrucksschule: dass wir etwa am Beispiel eines Jeremia lernen, in tiefster Ehrlichkeit alle Emotionen ohne Ausnahme vor Gott ins Wort zu bringen. Was immer es ist, wie abgründig es ist, etwas aussprechen zu können wirkt immer befreiend. Wenn ich vor Gott nicht einmal ehrlich sein darf, wo denn sonst?

 

War jemand da in dunkler Zeit?

 

Die Propheten und genauso die Psalmen können uns Hilfestellung sein, uns selbst zu artikulieren, Klartext zu sprechen ohne falsche Zurückhaltung. Unsere eigenen Krisenzeiten mögen sich – Gott sei Dank – sehr von denen des Jeremia unterscheiden, doch niemand entkommt den Schwierigkeiten, die das Leben mit sich bringt.

Ob es eine Zeit der Pandemie, der persönlichen Krise ist, familiärer, partnerschaftlicher oder beruflicher Schwierigkeiten, schwerer Erkrankung, des Verlusts einer geliebten Person – wenn Sie zurückschauen und sich fragen: Wie in aller Welt habe ich das bewältigt, war Gott bei mir in dieser dunklen Zeit? War jemand da, den ich anschweigen, ansprechen, anschreien konnte?

Vielleicht war ich zu der Zeit erschüttert, im Zweifel bis zur Verzweiflung – wenn ich nun zurückschaue, kann ich sehen, dass ich trotzdem ein Fundament hatte, von außen unsichtbar, dass eine ungeahnte Kraft mich führte. Dass sich mein Leben gerade durch Krisen hindurch zum Guten wandelte und entwickelte. Dass es sich gelohnt hat, mein Kreuz auf mich zu nehmen und Leben zu gewinnen.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 22. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr A) finden Sie hier.

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