Peter Kossen über den Schuldenerlass und über Sklaverei in heutiger Zeit

Auslegung der Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis (A)

Ein zahlungsunfähiger Schuldner verpfändet gegenüber seinem Gläubiger seine Arbeitskraft. In der Antike ein üblicher Vorgang, den Jesus aber aufbricht. Lange her? Nein, findet Pfarrer Peter Kossen. Er denkt an Billiglöhne, Arbeitsmigration und Ausbeutung heute.

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Ein zahlungsunfähiger Schuldner verpfändet gegenüber seinem Gläubiger seine Arbeitskraft. In der Antike ein üblicher Vorgang, lange her. Aber was ist mit Billiglöhnen, Arbeitsmigration und Ausbeutung in unserer Zeit? Fragt Pfarrer Peter Kossen aus Lengerich in seiner Auslegung.

„Bei dem habe ich noch einen gut“, sagen wir und meinen: Der andere schuldet mir einen Gefallen. Wer in meiner Schuld steht, der ist von mir abhängig – ein bisschen oder auch mehr. Was der andere mir schuldet, das kann ich benennen, vielleicht sogar beziffern. Auf jeden Fall kann ich es einfordern und immer mal durchblicken lassen, dass ich das nicht vergessen habe.

In der Antike war Schuldsklaverei ein üblicher Vorgang: Ein zahlungsunfähiger Schuldner verpfändet gegenüber seinem Gläubiger seine Arbeitskraft, er gerät in Schuldknechtschaft. Kann er durch seine Arbeit die Schuld dauerhaft nicht abtragen, wird die Abhängigkeit zur Sklaverei und die Arbeit zur Ausbeutung. Ganze Familien werden auf diese Weise geknechtet und versklavt: Frauen und Männer, Erwachsene und Kinder.

 

Wieder „alles auf Null“ stellen

 

Das Erste Testament kennt die Idee, dass spätestens alle fünfzig Jahre, im „Jubeljahr“, „alles auf Null“ gestellt, Sklaverei und Abhängigkeiten aufgelöst und Schulden erlassen werden. Ob das jemals wirklich durchgeführt wurde, kann man heute nicht mehr sagen. Jesus jedenfalls macht den großen Schuldenschnitt zum Thema seines Gleichnisses von dem barmherzigen und dem unbarmherzigen Gläubiger.

Der Erlass der Schulden ist das Bild für Vergeben und Verzeihen. – Und auch hier gilt: Wenn ich „noch einen gut habe“, ist der andere ein bisschen oder auch ein bisschen mehr in meiner Hand, kann ich ihn oder sie benutzen, vielleicht „nur“ als Ziel und Adressat meiner Verachtung. Besitzstände und Forderungen gibt es vielfältig auch jenseits von Geld. Unter Umständen lebt es sich komfortabel, wenn ich den anderen, meinen „Schuldner“, einsperren kann in seiner Verlierer-Rolle: Depp und Schuldiger vom Dienst, das „schwarze Schaf“.

Gesellschaften richten sich so ein, Menschen finden nichts dabei, wenn die Welt aufgeteilt wird in Schwarz und Weiß, in „Gute“ und „Böse“, solange sie nur auf der richtigen Seite stehen. Der Sündenbock ist eine herrliche Erfindung und funktioniert bis heute!

 

Als Billiglöhner angeworben

 

Dieses Schubladendenken bricht Jesus auf, und er holt die Menschen aus der Schuldsklaverei, der einen und der anderen, damals und heute. Soweit weg ist das nicht! Wo Bauern in Afrika oder Lateinamerika für (patentiertes) Saatgut ihre Freiheit verpfänden, wo indische Arbeiter für unbezahlbare Medikamente mit ihrer ganzen Familie in der Ziegelei schuften und gefangen gehalten werden, wo junge Mädchen und Frauen, oft Analphabetinnen aus Rumänien oder Bulgarien, mit Drogen für den deutschen Straßenstrich gefügig gemacht und gehalten werden, da ist Schuldsklaverei heute so wirklich wie zur Zeit Jesu.

Das billige Fleisch, die billigen Erdbeeren, die billigen Klamotten haben ihren Preis. Arbeitsmigranten – aus Rumänien, Bulgarien, Ungarn … – werden als Billiglöhner in ihren Heimatländern angeworben, oft mit Versprechungen bezüglich Lohn und Wohnung, die in der Realität nicht annähernd eingehalten werden. Einmal in Deutschland angekommen, werden die Arbeiter mit „Schulden“ konfrontiert, die durch Vermittlung, Transport und Schlafplatz bereits zu Beginn aufgelaufen sind und die sie abarbeiten müssen, manchmal unbefristet.

 

Slumartige Verhältnisse

 

Durch die Abhängigkeit von ihrem Arbeitgeber werden sie gefügig gemacht und gehalten durch angedrohte und ausgeführte körperliche und psychische Gewalt gegen sie selbst oder ihre Angehörigen in der Heimat, durch Vorenthaltung von zustehendem Lohn, durch Verquickung von Arbeits- und Wohnmöglichkeit, durch Abschottung vom deutschen Umfeld, durch das ausdrückliche Verbot, über Arbeit und Arbeitgeber zu reden, durch willkürliche „Strafgelder“, durch die Drohung, bei einem Ausstieg aus der Arbeit nirgendwo in der Region neue Arbeit zu finden …

Arbeitsmigranten hausen – zum Teil mit Kindern (!) – in slumartigen Verhältnissen auf Campingplätzen wie bei Visbek und Wildeshausen, in verschimmelten Bruchbuden wie mitten in Vechta oder in Essen (Oldenburg) oder in alten Kasernengebäuden wie in Quakenbrück.

 

Moderne Sklaven

 

Hausärzte wie mein Bruder behandeln das Phänomen der „Totalerschöpfung“ bei Arbeiterinnen und Arbeitern, die gezwungen werden, über Monate hinweg sechs Tage in der Woche und bis zu 15 Stunden täglich zu arbeiten. Sind sie krank, lassen sie sich nicht krankschreiben aus Angst, dann ihren Job zu verlieren. So schuften und leiden sie still als moderne Sklaven.

Jesus lebt und fordert die Freilassung der Menschen – aus der einen und der anderen Schuld. Dazu braucht es Solidarität statt Ausbeutung, Gerechtigkeit statt Diskriminierung. Und es braucht uns: Als Erlöste sind wir selbst Werkzeuge der Befreiung!

Sämtliche Texte der Lesungen und des Evangeliums vom 24. Sonntag im Jahreskreis (A) finden Sie hier.

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