Schwester Ulrike Soegtrop: Jesus geht den verlorenen Menschen nach

Auslegung der Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr C

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Jesus isst mit Zöllnern und Sündern, Täter und Opfer sitzen am selben Tisch - nicht immer leicht auszuhalten, sagt Schwester Ulrike Soegtrop in ihrer Auslegung zu den Schrifttexten dieses Sonntags.

Das heutige Evangelium mit seinen drei Gleichnissen ist ein Paradebeispiel eines offenen, Sinn und Resonanz stiftenden Erzählprozesses. Heute würde man Jesus als „Story-Thinker“ bezeichnen.

Er begegnet der Empörung der Religionsvertreter nicht mit Gegenargumenten und dogmatischen Lehraussagen. Er erzählt Alltagsgeschichten und lässt offen, wo und wie die Hörenden sich darin wiederfinden. Der unaufmerksame Hirte, der ein Schaf verloren hat, die Frau, die unzuverlässig mit ihrem Gut umgegangen ist, und der vergnügungssüchtige Sohn – sie mögen persönliche Erfahrungen ansprechen, an alte Verletzungen rühren oder gar Schuldgefühle wecken.

„Denn ich wusste nicht, was ich tat“ – so wie Paulus damals, versucht auch heute noch so manch einer, sich aus der Schuldaffäre zu ziehen. Und ist es nicht so, dass die Gnade und Liebe Gottes immer größer sind als alle Schuld; dass seine Barmherzigkeit und Langmut die Schuld sogar tilgt?

Jesu Antwort auf das menschliche Verlorensein

Die Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C) zum Hören finden Sie hier.

Vielleicht ist uns selten in der Kirchengeschichte so bewusst geworden wie heute, welche Brisanz in dieser Glaubensaussage liegt. Muss sie unseren menschlichen Denk- und Wertehorizont nicht maßlos überfordern?

„Dieser nimmt Sünder auf und isst mit ihnen“ – Gastfreundschaft und Mahlgemeinschaft sind Jesu Antworten auf das menschliche Verlorensein. Er gibt kein Gutachten über die Schuldverstrickungen in Auftrag und analysiert nicht die systemischen Hintergründe. Er nimmt die Sünder:innen auf und isst mit ihnen.

Täter und Opfer an einem Tisch

Wie mag es demjenigen gehen, der vom Zöllner ausgenommen worden ist und nun neben ihm sitzt? Wie mag es all jenen Opfern von Ausbeutung und Missbrauch gehen, die bei Jesus Zuflucht und Schutz, Verständnis und Heilung gesucht haben und erleben müssen, dass seine Zuwendung nicht nur ihnen gehört, sondern auch den Tätern? Alle sitzen am selben Tisch. Was für eine Zumutung! Und dieser Jesus erzählt dabei Geschichten.

2000 Jahre und unendlich viele Schuldgeschichten später stehen wir vor den Trümmern eines Systems, das nicht das missbrauchte Kind im Blick hatte, nicht die abgewiesenen Gleichgeschlechtlich-Liebenden und Geschieden-Wiederverheirateten, nicht die schwangere Frau, die keinen anderen Weg für sich findet als die Abtreibung.

Jesus geht den Verlorenen nach

Die Autorin
Schwester Ulrike Soegtrop
Ulrike Soegtrop OSB ist Schwester der Benediktinerinnenabtei St. Scholastika Burg Dinklage. | Foto: Christof Haverkamp

Wir merken: Es ist nicht so einfach, nach jesuanischen Maßstäben von Sündern, Tätern und Opfern zu reden. Genau das ist gut so. Nicht umsonst gibt es dafür eine staatliche Gerichtsbarkeit. Nichts spricht dagegen, dass Jesus genau diese gewollt hätte. Denn auch das lehrt die Geschichte: Erst muss das goldene Kalb zu Staub werden, bevor das Volk Israel mit seinem Gott einen neuen Anfang machen kann.

„Aber man muss doch ein Fest feiern und sich freuen; denn dieser, dein Bruder, war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ Jesus geht dem wie auch immer verlorenen Menschen nach.

Jede und jeder kann sich finden lassen

Er will ihn finden. Im Gestrüpp von Schuldverstrickungen, von Selbstvorwürfen, von verdrängten Verletzungen; in der Entfremdung, der Enttäuschung, in der Enge von Depression oder Sucht und in jeder Form des Verlorenseins. Jesus will finden – jede und jeden Einzelnen.

Jede und jeder Einzelne hat die Chance, sich finden zu lassen: indem jede:r den ersten Schritt tut, sich zu eigenen Fehlern und allem, was sich in dem Begriff „Sünde“ verdichtet, bekennt und zum Weg der Heilung umkehrt.

Für alle ist gedeckt

Übrigens lehrt uns die erste Lesung aus dem Buch Exodus: Umkehr ist eine göttliche Tugend. Gott selbst lässt sich seinen Zorn und seine zerstörerischen Absichten reuen und kehrt zu Langmut und Erbarmen zurück. Mit Paulus dürfen wir glauben, „zum Vorbild für alle, die in Zukunft an ihn glauben, um das ewige Leben zu erlangen“.

Zu Beginn des dritten Jahrtausends werden unsere Kirchen leerer. Doch die Herzen derer, die Jesu Geschichten an sich heranlassen, stehen offen. Ihre Tische sind gedeckt. Letztlich sind alle zur Mitfreude eingeladen.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 24. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr C) finden Sie hier.

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