BIBEL AM SONNTAG (31./B)

Gerhard Theben: Keine Gottesliebe ohne Menschenliebe

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Wie nähern sich Christen der Gottesliebe an? Eine mögliche Ausdrucksform ist die Kunst, zum Beispiel in Kirchen. Doch konkret wird es erst, wenn die Gottesliebe zu Menschenliebe heranreift, erklärt Domkapitular Gerhard Theben und legt die Lesungen dieses Sonntags aus.

Etwa 15 Jahre bestand in der Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands (KFD) unseres Bistums ein Arbeitskreis „Kunst und Kirche“. Dieser hatte sich zur Aufgabe gemacht, das vielfach anzutreffende Fremdeln mit der Gegenwartskunst zu überwinden („ist das Kunst oder kann das weg…?“). Der Zugang zu zeitgenössischer Architektur, Malerei und Plastik ist für viele nicht einfach.

Die Methode unserer Annäherung hat sich über die Jahre bewährt. Ein Thema wurde an zwei Objekten studiert: eines aus der Tradition aufgrund der Sehgewohnheiten, das zweite aus der Gegenwart oder klassischen Moderne. Wir trafen uns dreimal jährlich, vielfach in einer oder zwei Kirchen, aber auch andernorts. Als beste Zeit erwiesen sich die Sonntagnachmittage.

Eine Fülle von Szenen aus dem Leben Jesu

Ich erinnere mich noch sehr gut des ersten Nachmittags zum Thema des heutigen Evangeliums: „Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Darum sollst du den Herrn, deinen Gott, lieben aus ganzem Herzen und ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft“ (Mk 12,29-30). So hat Jesus auf die wohl ernstgemeinte Frage eines Schriftgelehrten mit dem Kernsatz israelitischen Glaubens, dem täglich im Gebet gesprochenen Zitat aus dem Buch Deuteronomium (6,4-6), deutlich geantwortet.

St. Nikolai in Kalkar, dieser Festsaal der Spätgotik, war für alle Anwesenden nicht nur ein überzeugender, sondern auch überwältigender Beweis für den Gottesauftrag „mit all deiner Kraft“. Der um 1500 fertiggestellte Hochaltar bietet eine fast unübersehbare Fülle an Szenen aus dem Leben Jesu. Neun von ursprünglich mindestens 16 holzgeschnitzte Altaraufsätze oder Retabel laden ein zur Betrachtung. Karl-Martin Hartmann schuf Anfang des 21. Jahrhunderts die kriegszerstörten Fenster neu. 

Kunst als Ausdruck der Gottesliebe

St. Nicolai gehört zu den bedeutendsten Schatzhäusern spätmittelalterlicher Kunst in Europa. Die stolze Bürgerschaft stattete in etwas mehr als einem Jahrhundert die St.-Nicolai-Kirche mit hochrangigen Kunstwerken aus. Dem heutigen Denken und Empfinden ist solch immenser Aufwand für die Ausstattung einer Kirche erstaunlich, vor allem das Motiv: zweckfreie Gottesverehrung, Kunst als Ausdruck der Gottesliebe.

Weiter ging es nach Emmerich am Rhein zur 1966 geweihten Heilig-Geist-Kirche (Foto). Das dortige sieben Meter hohe und neun Meter breite Monumentalkreuz von Waldemar Kuhn prägt das liturgische Zentrum. Da es aus Stahlabfällen unterschiedlichster Herkunft besteht, erhielt es auch die Bezeichnung „Schrottkreuz“. Nicht die triumphale Überwindung von Leid und Tod steht hier im Vordergrund, sondern die Unzulänglichkeit des Menschen. Der Altar ist nach dem gerade laufenden Zweiten Vatikanischen Konzil zweigeteilt gestaltet als „Tisch des Wortes“ und „Tisch des Brotes“. 

Konkret wird es in der Menschenliebe

Wieder trafen wir hier auf einen Raum von höchstem künstlerischen und geistlichem Niveau, jedoch nun in der Sprache unserer Zeit. Ich erinnere mich noch sehr lebendig des geistlichen Gesprächs in der Gruppe, das durch dieses Kunsterlebnis inspiriert war. Nach dem Erkunden der ausgesprochen originellen und unkonventionellen Bildsprache der Kunstwerke wurde der Respekt immer größer: Wie viel Nachdenken der Kunstschaffenden, manchmal auch Auseinandersetzungen, wie viel Sorgfalt und Akribie mischten sich mit Inspiration! Dies alles für eine Kirche, in der die Verehrung Gottes, seine Liebe zu uns Menschen und unsere zu ihm gefeiert wird. „Liebe Gott … mit ganzem Herzen und all deiner Kraft!“ Die Liebe zu Gott kennt viele Ausdrucksformen.

Ob solche Gottesliebe allerdings wirklich echt ist, erweist sich in der Menschenliebe. Sie ist das konkrete Übungsfeld für die Bewahrheitung der Gottesliebe. So weist Jesus mit einem weiteren Zitat aus dem Ersten Testament (Lev 19,18) unmissverständlich darauf hin: „Als zweites kommt hinzu: du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ heißt es im Evangelium.

Zu Werkzeugen des Friedens werden

Von Dietrich Bonhoeffer wird berichtet, dass auch in seiner Gemeinde Jüdinnen und Juden verunglimpft, verraten und ausgegrenzt wurden. Aus jener Zeit stammt sein berühmtes Wort: „Nur wer für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen!“

Ich wünsche mir und Ihnen, dass wir durch Gottes Liebe zu Werkzeugen des Friedens werden und Liebe üben auch und gerade in lieblosen Zeiten und an lieblosen Orten. Übrigens: Ein Besuch in den genannten Kirchen lohnt sich unbedingt – in der beschriebenen Reihenfolge.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 31. Sonntag im Jahreskreis / Lesejahr B finden Sie hier.

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