Kaplan Oliver Rothe über den Hirten, die Schafe und die Wölfe

Auslegung der Lesungen vom 4. Ostersonntag (B)

„Ich bin der gute Hirt!“ Dieses Wort aus dem Johannes-Evangelium ist uns bis heute noch sehr vertraut, schreibt Kaplan Oliver Rothe in seiner Auslegung des Evangeliums. Aber was bedeutet diese Zusage für uns Schafe?

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„Ich bin der gute Hirt!“ Dieses Wort aus dem Johannes-Evangelium ist uns bis heute noch sehr vertraut, schreibt Kaplan Oliver Rothe in seiner Auslegung des Evangeliums. Aber was bedeutet diese Zusage für uns Schafe?

„Ich bin der gute Hirt!“ Dieses Wort aus dem Johannes-Evangelium ist uns bis heute noch sehr vertraut. Vor dem geistigen Auge sehen wir grüne Wiesen im Sonnenschein, einen Hirten mit einem Stab, möglicherweise noch einen Hirtenhund, der die Herde mit zusammenhält. Das klingt alles nach Idylle, doch dieses Ich-bin-Wort Jesu enthält eine theologische Dichte, die viel tiefer ist und erst durch das Alte Testament ihre volle Kraft entfalten kann. Das Bild des Hirten ist tief im Alten Testament verwurzelt und Gegenstand der christlichen Überlieferung.

Der Titel „Hirte Israels“ wird von den Propheten dem künftigen Nachkommen Davids zuerkannt, und daher besitzt er eine Bedeutung, die auf den Messias hindeutet. Jesus ist der wahre Hirte Israels, weil er als Menschensohn den Menschen das neue Leben schenkt und sie zum Heil führt.

 

Jesus schützt die Schafe vor den Wölfen

 


Das Evangelium vom 4. Ostersonntag (Lesejahr B) zum Hören und Sehen auf unserem Youtube-Kanal.

Der Evangelist Johannes verstärkt diese Bedeutung noch dadurch, dass er den Begriff „Hirt“ durch das Adjektiv „gut“ konkretisiert. Dieses Beiwort verwendet Johannes ansonsten in seinem Evangelium ausschließlich im Hinblick auf Jesus Christus und dessen Auftrag.

Mit dem Bild des guten Hirten gibt Jesus Christus seinem Tod eine österliche Bedeutung. Seine Lebenshingabe ist nicht Sühne für unsere Sünden, sondern Ausdruck seiner Liebe zu den Menschen. Jesus schützt die Schafe vor den Wölfen.

 

Die Wölfe unserer Zeit

 

Die Wölfe können wir als die Gefährdungen des Lebens deuten, denen wir Menschen ausgesetzt sind und vor denen der Herr uns schützt. In diesen Bedrohungen kann man zunächst die schwierige Situation der frühen Christen sehen. Sie fühlten sich konkret gefährdet, da sie aus den jüdischen Gemeinden ausgeschlossen wurden.

Doch das Bild der Wölfe geht über diesen historischen Aspekt hinaus, wenn das Bild auf unsere Gefährdung bezogen wird. Uns bedrohen Selbstsucht, fehlendes Selbstwertgefühl, Kränkungen und Verletzungen, mangelnde Orientierung und Leblosigkeit, Rücksichtslosigkeit und Neid. All diese Gefährdungen, die jeder Mensch in den verschiedenen Ausprägungen kennt und um weitere ergänzen könnte, beantwortet Jesus mit seiner bedingungslosen Liebe.

 

Christen müssen Gott kennen

 

Diese Liebe drückt sich im Begriff „kennen“ aus. Er kennt seine Schafe, und seine Schafe kennen ihn, wie ihn der Vater kennt, und er den Vater kennt. Nach Johannes handelt es sich bei „kennen“ nicht primär um einen intellektuellen Vorgang. Es geht vielmehr um eine tiefe persönliche Beziehung; ein Kennen vom Herzen her, das demjenigen zu eigen ist, der liebt und der geliebt wird, der andere Menschen annimmt und sich selber angenommen weiß, der treu ist und der weiß, dass er seinerseits dem anderen vertrauen kann.

Der Autor
Oliver Rothe ist Kanonikus an der Propsteigemeinde St. Remigius Borken. | Foto: Markus Nolte
Oliver Rothe ist Kanonikus an der Propsteigemeinde St. Remigius Borken. | Foto: Markus Nolte

Das „Kennen“ im johanneischen Sinne erhält noch eine weitere Dimension in unserer eigenen Lebenswelt. Nur die Beziehung zu Gott kann wahre Erkenntnis des Menschen ermöglichen. Häufig bleiben wir bei Äußerlichem und Oberflächlichem stehen und verdecken und übersehen dabei das Eigentliche und das Innere. Nur in einer tiefen Beziehung zu Gott, in einem „Kennen“ Gottes, liegt unser Weg, das wahre Menschsein zu erfahren. Wahre Selbsterkenntnis kann nur aus dem Kennen Gottes entstehen. Wahre Erkenntnis des Nächsten besteht in der Entdeckung des Göttlichen im Nächsten.

 

Wie die Schafe?

 

Das Bild vom „Guten Hirten“ ist häufig auf Priester und Seelsorger angewandt worden. Der Priester als Hirt der Herde, der Menschen in der Gemeinde. Bei allen Herausforderungen, die dieses Bild darstellt, sagt es zumindest etwas über den Dienst der Priester in unserer Zeit. Wenn es darum geht, dass der Hirte seine Herde dazu bringt, Gott zu kennen, dann ist das nur möglich, wenn er sie befreit von der menschlichen Enge und dem Gefangensein in sich selbst. Dieses Erkennen Gottes geht zunächst sicherlich durch persönliche Beziehung, darf dabei aber nicht stehen bleiben. Aufgabe des Priesters als „guter Hirt“ ist es, über sich und sein Menschsein hi­nauszuführen auf den, in dessen Dienst er steht: Jesus Christus.

Möglicherweise sträubt sich im „modernen“ Menschen manches gegen das Bild vom Hirten und den Schafen. Manch einer mag sich nicht als Schaf sehen, das von Jesus Christus geführt und behütet wird. Auf den ersten Blick könnte dieses Bild nämlich dem des freien und selbstverantwortlichen Menschen widersprechen. Das Gegenteil ist jedoch der Fall, sodass im Bild vom „Guten Hirten“ noch eine andere Facette sinnenfällig wird: Freiheit ist nur durch und mit Jesus Christus möglich. Nur wer sich ihm ganz öffnet, sich ganz kennen und erkennen lässt, kann frei werden – frei für Jesus Christus.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 4. Ostersonntag (Lesejahr B) finden Sie hier.

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