Tim Schlotmann über gutes und schlechtes Mitleid

Auslegung der Lesungen vom 6. Sonntag im Jahreskreis (B)

„Bloß kein Mitleid!“, sagen manche, obwohl es ihnen nicht gut geht. Jesus interessiert das im Evangelium nicht: „Er hatte Mitleid mit dem Aussätzigen.“ Mit Überheblichkeit hat das nichts zu tun, meint Tim Schlotmann, Pastoralassistent in Coesfeld. Im Gegenteil.

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„Bloß kein Mitleid!“, sagen manche, obwohl es ihnen nicht gut geht. Jesus interessiert das im Evangelium nicht: „Er hatte Mitleid mit dem Aussätzigen.“ Mit Überheblichkeit hat das nichts zu tun, meint Tim Schlotmann, Pastoralassistent in Coesfeld. Im Gegenteil.

Das Mitleid hat keinen guten Ruf. Wer möchte schon Mitleid haben? Dann erst hat es mich so richtig erwischt, wenn ich mitleidige Blicke bekomme. Das Schlimmste in der Situation des Übels ist ja dann noch das Mitleid der Anderen.

Das Evangelium vom 6. Sonntag im Jahreskreis (B) zum Hören und Sehen auf unserem Youtube-Kanal.

Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muss man sich verdienen. Wer kennt das nicht? Vom Mitleid ist es nicht mehr ganz weit bis zur Verachtung. Weiß ich wirklich, ob ich nicht auch ein bisschen belächelt werde? Und wird mein Leiden nicht eigentlich größer oder wird es nicht gar verlängert durch das Mitleid der Anderen?

 

Trostreiche Begegnung

 

Nicht nur der Leidende, auch der Mitleidende hat eine Ahnung, dass er auf dem falschen Dampfer ist. Durch Mitleid mache ich den Anderen klein. Womöglich verschärfe ich tatsächlich sein Leiden, wenn ich diese Haltung einnehme. Eine hilf- und trostreiche Begegnung müsste eine Begegnung auf Augenhöhe sein, keinesfalls darf das Mitleid mein Handeln beeinflussen, prägen oder vorherbestimmen.

Als Seelsorger bin ich da auf der Hut! Ich muss mich dabei wohl professionell schützen, um nicht höchst unprofessionell in die Mitleidsfalle zu tappen. Wie viele haben schon vom Mitleid angetrieben mehr Schaden angerichtet als zu helfen?

Und doch komme ich in diesen außergewöhnlichen Schilderungen am Beginn des Markus-Evangeliums einfach nicht daran vorbei. Offensichtlich hat Jesus Mitleid empfunden in der Begegnung mit dem Aussätzigen – und wohl nicht nur dort. Womöglich hat das Mitleid mit den leidenden und den ausgestoßenen Menschen den Herrn angetrieben, ihn im buchstäblichen Sinn aufgeregt und ihn erkennen lassen, was zu tun ist. Allzu gerne würden wir mit dem Blick der Menschen von 2018 darüber hinweggehen, aber wir könnten es auch anders halten und schlicht und ergreifend das Mitleid rehabilitieren.

 

Auf dem falschen Dampfer?

 

Es wäre doch mal einen kleinen Versuch wert, das Mitleid von seinem schlechten Ruf zu befreien und dann zu schauen, was passiert. Wir lösen uns erstmal von der Angst, auf dem falschen Dampfer zu sein und vergessen nicht, dass es Jesus war, der Mitleid empfunden hat.

Der Autor
Tim SchlotmannTim Schlotmann ist Pastoralassistent in der Pfarrgemeinde St. Lamberti, Coesfeld. | Foto: privat

Mitleid ist zuallererst eine Empfindung. Nur bedingt lässt sie sich steuern und beeinflussen. Wir können uns auch nicht so einfach dagegen wehren. Wer kann sich davon freisprechen? Jeder hat doch wohl schon einmal Mitleid empfunden. Was wäre das auch für eine Welt, in der kein Mitleid empfunden wird? Was sind das für Menschen, die kein Mitleid kennen?

Jeder weiß, dass es einen übermannen und ergreifen kann. Da tauchen Menschen auf oder sogar nur Bilder von Menschen, deren Leiden uns entgegentritt, und wir werden davon ergriffen, möchten uns bewegen, erfahren Unwohlsein, solange wir nichts tun.

 

Hat Mitleid mit Macht zu tun?

 

Das ist nicht rational, aber es ergreift mich. Ergriffen zu sein, das heißt, ansprechbar für Gott und die Menschen, keinesfalls lethargisch und unbeweglich zu sein: Mich interessiert das Leiden der Anderen. Weh mir, ginge es spurlos an mir vorüber, wenn ich einen ausgestoßenen Menschen sehe. Im Freundeskreis gibt es ihn genauso wie in der Fußgängerzone und in der Schulklasse.

Es ist gar nicht so zwangsläufig und vorgegeben, vielleicht nicht einmal nahe liegend, dass Mitleid etwas mit Machtausübung zu tun haben muss. Da gibt es die vielen Geschichten vom kirchlichen Machthandeln und vom Kleinhalten der Bemitleideten. Aber das Mitleid Jesu geht zu Herzen und es befähigt zur Selbstlosigkeit. Das Mitleid ist ein wuchtiger Antrieb. Wer Christus zum Vorbild nimmt, darf Mitleid empfinden, wenn er nicht stehen bleibt.

 

Eine Kultur des guten Mitleids

 

Wir als Christen sollten es wagen und eine Kultur des guten Mitleids etablieren. Eines reflektierten Mitleids. Oder eines aufrichtigen Mitleids. Vor allem eben: eines Mitleids, das nicht ohne Folgen bleibt. Denn sonst hätte das Mitleid einen üblen Ruf verdient! Es wäre keine Selbstlosigkeit, sondern Selbstbezogenheit.

Und wenn wir diesen Begriff an dieser Stelle hören, dann denken wir vielleicht auch ans Selbstmitleid. Es hat hier und dort seine Berechtigung, darf aber niemals Ende und Ziel sein. Wehe dem, der im Selbstmitleid versinkt. Das genaue Gegenteil ist angesagt: Stets ist das Mitleid nur der Anfang. Wer im Mitleid stehen bleibt, wird höchstens in Mitleidenschaft gezogen. Ein Handeln im Sinne Jesu ist vom Mitleid und vom Mitleiden angetriebenes Handeln. Jesus belässt es nicht dabei. Er richtet auf und stellt wieder her. Wen kann es wundern, dass sie „von überallher“ (Mk 1,45) zu ihm kamen?