Michael Kertelge über irre Verbote und die Zehn Gebote

Auslegung der Lesungen vom 9. Sonntag im Jahreskreis (B)

„Menschen retten sonntags verboten.“ Manche biblische Anordnung wirkt auf den ersten Blick verrückt. Aber wenn es doch schwarz auf weiß geschrieben ist? Auch Jesus bekommt damit zu tun. Michael Kertelge aus Lüdinghausen zeigt, worauf es bei Geboten ankommt.

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„Menschen retten sonntags verboten.“ Manche biblische Anordnung wirkt auf den ersten Blick verrückt. Aber wenn es doch schwarz auf weiß geschrieben ist? Auch Jesus bekommt damit zu tun. Michael Kertelge aus Lüdinghausen zeigt, worauf es bei Geboten ankommt.

Manchmal sieht man vor lauter Wald keine Bäume mehr. Da tut es gut, wenn Jesus deutlich macht, was die Gebote Gottes eigentlich wollen: Das umfassende Wohl der Menschen. Die wöchentliche Arbeitsruhe ist Ausdruck dafür. Der Mensch verdankt sich nicht zuerst Leistung und Arbeit, sondern Gott und seinen Gaben. Das ist quasi das Vorzeichen vor der Klammer des Ganzen. Daran gilt es zu erinnern. Bischof Franz Kamphaus sagt zum Sonntag: „Er ist wie ein Notenschlüssel, der die Melodie unseres Lebens erschließt.“

Deshalb waren die Pharisäer im Evangelium verdattert. Jesus schlägt eine Schneise mitten in ihren Wald von Regeln. Das Abreißen von Ähren durch seine Jünger am Sabbat galt als Vorstufe zum Ernten und war deshalb verboten. Die Pharisäer waren nicht dumm und scheinheilig. Sie legten Wert auf den Sabbat. Deshalb haben sie dieses kostbare Gut so gehütet.

 

Verbote, Verbote, Verbote

 

39 Verbote sollten allein im Bereich Nahrung-Kleidung-Wohnen den Sabbat schützen. Einige Gruppen stritten darüber, ob es am Sabbat erlaubt sei, Trauernde zu trösten oder Kranke zu besuchen. In den Regeln der Qumrangemeinschaft durfte man einen Menschen am Sabbat nicht aus einer Grube herausholen, in die er gefallen war. Es sei denn, man brauchte kein Werkzeug und keine Leiter.

Der Autor
Michael KertelgeMichael Kertelge ist Pastoralreferent in St. Felicitas in Lüdinghausen und Seppenrade. | Foto: privat

Sicher schütteln wir ob solcher Engherzigkeit den Kopf. Doch sind die Zeiten solch gesetzlicher Sicht auf die frohe Botschaft auch christlicherseits nicht fern. In der „Katholischen Moraltheologie” von Heribert Jone (16. Auflage von 1953) kann man über die Sonntagsruhe noch lesen: „Knechtliche Arbeiten sind verboten.“ Darunter wurden hauptsächlich Arbeiten „mit körperlichen Kräften und zu materiellen Zwecken“ verstanden. Gartenarbeiten waren verboten “auch wenn sie umsonst, zur Erholung oder zu einem frommen Zwecke geschehen.“

Erlaubt waren dagegen „Studieren, Lehren, Musizieren, Zeichnen, Entwerfen von Bauplänen, Schreiben (auch mit der Schreibmaschine), Malen, Ausführen feinerer Bildhauer-Arbeiten, Anfertigen feinerer Stickereien. Photographieren, auch wenn man dafür bezahlt wird.“ Da waren die Bildhauer, Architekten und freien Fotografen fein raus. Hingegen war der Mensch gekniffen, der „knechtliche“ Arbeit verrichtete.

 

Auch Sklaven und Tiere waren geschützt

 

Jesu Antwort dagegen ist schriftgelehrt. Sein Fall des David, der die Schaubrote des Tempels aß, ist beredtes Beispiel. Den elementaren Hunger seiner Begleiter zu stillen, ist für David höher anzusetzen als das Gebot der Priester. Wenn es um das Leben von Menschen geht, ist ein religiöses Gebot nachrangig. Der Gesetzesbuchstabe hat weniger Bedeutung, das menschliche Leben ist höher einzuschätzen. Dann kommt der elementare Satz: „Der Sabbat ist für den Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat.“

Das wussten die Israeliten im Grunde auch. In der Lesung aus dem Buch Deuteronomium klingt es an. „Achte auf den Sabbat: Halte ihn heilig.“ Zum einen, weil „der Herr, dein Gott, dich mit starker Hand und hoch erhobenem Arm“ aus dem Sklaven-Dasein Ägyptens herausgeholt hat. Und zum anderen, weil seit Anbeginn der Schöpfung Gott nach sechs Tagen Arbeit einen Tag der Ruhe und des Aufatmens gesetzt hat. Eine quasi religiöse Sozialgesetzgebung. Denn geschützt waren auch Sklaven und Tiere und auch die Fremden.

 

Leben retten verboten, Todesurteile nicht

 

Wie sieht es heute aus mit dem Sonntag? Er ist bei uns an die Stelle des Sabbats getreten. Für über 90 Prozent der katholischen Christinnen und Christen meint dies jedoch nicht mehr die Mitfeier des sonntäglichen Gottesdienstes.

Für mich ist das eine stete Mahnung, die Gottesdienste lebendig und froh zu gestalten. Authentisch, konkret und aktuell, dass die wichtigen Erfahrungen der Menschen aus der Woche vorkommen. Gilt es doch, das Heil der Menschen im Blick zu behalten.
Deshalb macht Jesus am Sabbat die verdorrte Hand des Mannes auch gesund. Es geht um das Heil, mehr als um bloße Gesetzestreue. Und um Menschen, die Gutes im Schilde führen, statt am Sabbat Tötungbeschlüsse zu fassen – wie der letzte Vers des Sonntags-Evangeliums berichtet.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 9. Sonntag im Jahreskreis (Lesejahr B) finden Sie hier.

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