Christoph Schulte über den Wunsch nach Idylle und die Dummheit des Kreuzes

Auslegung der Lesungen von Palmsonntag (A)

Wenn die Welt aus dem Lot ist, werden Geschichten erzählt, damit wieder Idylle entsteht. Aber an Palmsonntag funktioniert das nicht. Da begegnet eine „Geschichte des Un-Sinns“, schreibt Christoph Schulte, Pastoralassistent in Havixbeck.

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Wenn die Welt aus dem Lot ist, werden Geschichten erzählt, damit wieder Idylle entsteht. Aber an Palmsonntag funktioniert das nicht. Da begegnet eine „Geschichte des Un-Sinns“, schreibt Christoph Schulte, Pastoralassistent in Havixbeck.

Rauhes Holz, ein Längsbalken, Splitter und ein paar Nägel im Querbalken, Blutspuren und Schweiß, Speichel, Hautschorf.

Das hat Jesus nicht gewollt. Jeden Tag betete er darum, lediglich ein galiläischer Heiler zu sein. Der Prophet aus Nazaret sehnte sich nach etwas Idylle, er wollte mit seiner Liebesbotschaft durch die Dörfer ziehen, heißt es in dem Roman „Judas“ von Amoz Oz.

Das Evangelium vom Palmsonntag zum Nachhören (Kurzfassung).

Auch in der Erzählung „Marias Testament“ von Colm Toibin ist die Sehnsucht nach Idylle zu spüren, der Wunsch der Mutter Jesu, in Frieden alt zu werden und nicht inmitten von Dramatik: „Wenn ihr sagt, dass er die Welt erlöst hat, dann sage ich, dass es das nicht wert war“, lässt Toibin seine Maria sagen. Welch ein Satz! Wie Blitz und Donner. Ein Paukenschlag für die Ohren von Gläubigen! Und zugleich ein Satz, der auf ein menschliches Grundbedürfnis zielt: Idylle, ein friedliches Leben, kein Drama, wenig Leid.

 

Wenn die Welt aus dem Lot ist

 

Die beiden belletristischen Bücher leisten, was Literatur vermeintlich erreichen soll. Normalerweise werden Geschichten erzählt, um etwas zu vertreiben: Furcht und Angst, im harmlosesten Fall die Zeit, erklärte einmal der Altenberger Philosoph Hans Blumenberg. Literatur war schon immer der Versuch, Haltung zu gewinnen angesichts von Chaos und Krise.

Wenn die Welt aus dem Lot ist, werden Geschichten erzählt, damit wieder Idylle entsteht. Man denke nur an die alttestamentliche Erzählung vom Auszug der Israeliten aus Ägypten. Die Gefangenschaft wird überwunden hin zur Freiheit, zum Leben im gelobten Land. Ob bei Amos Oz, Colm Toibin, den Schreibern des Buches Exodus oder noch vielen weiteren wird erzählt, um Sinn zu stiften, um Zukunft zu ermöglichen, um Sicherheit zu geben.

 

Geschichte eines Un-Sinns

 

Die biblischen Passions-Geschichten leisten das alles nicht, sie tun sogar genau das Gegenteil. Das sind keine „Gute-Nacht-Geschichten“. Das Bedürfnis nach einer idyllischen Gedankenwelt bleibt unbefriedigt. Diese Evangelien-Texte stürzen Christen seit dem Tag der Kreuzigung in die Krise. Da hilft auch kein Schielen auf Ostern, kein Deuteln am Psalm 22 – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ – als Gebetspsalm, der im Jubelruf endet. Dieses Ende des Jesus von Nazareth am Kreuz traumatisiert Christen seit jeher.

Das Wort vom Kreuz ist ein Skandal, eine Torheit, nicht zu diskutieren, Zeugnis geistiger Deformation. Paulus spricht im Ersten Korintherbrief von „moria“, einer Dummheit, einem Ärgernis; der Geschichte eines Un-Sinns. Sie mündet in einer bedrängenden Frage, die der Dichter-Theologe Christian Lehnert formuliert hat: „Das da, was am Kreuz hing, dieser Menschennachhall – was sollte das bedeuten?“ Die neunte Stunde, die ungewisse Stunde. Kopfschütteln, Unverständnis, Stöhnen und Stottern, Ringen um Worte: „Atemstillstand Golgotha“.

 

Evangelisten sind Ex-Kern-Bauarbeiter und Architekten

 

Wie kann man damit umgehen? Welche Maßstäbe gelten hier, wenn nicht mehr gilt, dass diese Erzählungen Ordnung schaffen in einer gestern wie heute aus den Fugen geratenen Welt? Wie haben die Evangelisten, diese Schriftsteller von Weltklasse, das Geschichten-Erzählen denn dann verstanden?

Der Autor
Christoph Schulte ist Pastoralassistent in St. Dionysius und St. Georg in Havixbeck. | Foto: PrivatChristoph Schulte ist Pastoralassistent in St. Dionysius und St. Georg in Havixbeck. | Foto: Privat

Im Grunde waren die Evangelisten Markus, Matthäus, Lukas und Johannes beides in einem: Ex-Kern-Bauarbeiter und Architekt, Abrissbirne und Speisfass. Sie zerstören einerseits die Funktion von Erzählungen als sicherheitsstiftende Komponente, aber gleichzeitig bauen sie etwas auf.

Die Evangelien bauen eine neue Vernunft auf: „Der Gläubige ahnt, dass dort, ... wo etwas gegen die eigene Lebenslogik geht, der Gott näher ist denn je“, sagt Lehnert. Denn wenn es stimmt, dass Sinn an geistigen Brüchen und Schnittstellen entsteht, dann ist der gekreuzigte Gottessohn die Sinnquelle schlechthin.

 

Trösten, segnen, heilen

 

Durch das Kreuz geraten bisher eindeutig zugeordnete Begriffe durcheinander. Jetzt gilt: Dieser „Aufgehängte“ und „von Gott Verfluchte“ (Dtn 21,23) ist ein von Gott Gewollter. Das ist eine Denkanstrengung ohnegleichen, doch sie führt zum verantwortbaren Glauben.
Letztlich vertrauen und glauben Christen bis heute dem Glauben der Erstzeugen vom Ostergeschehen: Er ist nicht hier. Jesus ist von den Toten auferstanden.

Die ersten Christen riefen nicht zur Wallfahrt oder Verehrung des Grabes auf, sondern verschrieben sich dem Weitersagen und Weiterhandeln im Namen Jesu: Trösten, segnen, heilen, Brot brechen und den Kelch kreisen lassen. Diese Geschichte bewegt die Menschheit bis heute. Aber keine Neu-Erzählung bügelt die Dramatik der Bibel glatt: „Das Wesen der Passionserzählungen ist der Umschlag vom Starren ins Dunkel zur Bitte um Sinn“, erklärt Lehnert, „und diese Bitte ist Gottes Offenbarung.“ 

Die Texte aller Lesungen und des Evangeliums vom Palmsonntag finden Sie hier.

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