BIBEL AM SONNTAG (5. Osterso/C)

Thomas Söding: Liebe ist privat – und politisch

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Was bedeutet Nächstenliebe konkret? Konkrete Hinweise gibt es in der Heiligen Schrift gleich mehrere.

 

Das Gebot der Nächstenliebe ist alt und neu zugleich. Es steht im Alten Testament (Lev 19,18) und wird im Neuen Testament an vielen Stellen zitiert. Es ist uralte Überlieferung der Heiligen Schrift und stets aktuelle Herausforderung nicht nur für Juden und Christen, sondern für alle Menschen guten Willens. Die Nächstenliebe ist ein Grundsatz universaler Ethik, der immer der Anwendung bedarf: Sie muss zur Situation und zur Person passen – und zu dem, was nicht nur wünschenswert, sondern möglich, aber auch nicht nur Pflicht, sondern Überzeugung ist.

Derzeit wird das Gebot der Nächstenliebe zu einem Brennpunkt politischer Debatten. Begründet es einen „ordo amoris“, eine Ordnung der Liebe, die es verlangt, sich auf die eigenen Leute zu konzentrieren und Fremde abzuweisen? So hat sich kürzlich der amerikanische Vizepräsident J. D. Vance geäußert, ein katholischer Konvertit. Oder will es ethische Kräfte bündeln und freisetzen, die es erlauben, Menschen auf Augenhöhe zu begegnen, ohne nach ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrem Geschlecht und ihrem Status zu fragen? So hat sich Papst Franziskus in der Kritik an der Migrationspolitik Donald Trumps geäußert.

Du bist von Gott geliebt

Die Lesungen vom 5. Sonntag der Osterzeit / Lesejahr C zum Hören finden Sie hier.

Die „Liebe“, um die es geht, ist die Liebe Gottes, die weitergegeben wird. Gott, der liebt, sagt: Ich will, dass es dich gibt. Die Nächstenliebe sagt im Namen Gottes: Ich will, dass es dich gibt – aber du bist nicht von meiner Liebe, meiner Anerkennung, meiner Hilfe abhängig, sondern du bist selbst von Gott geliebt, ebenso wie ich. Diese Liebe ist privat, sie ist auch politisch. Kein Staat kann lieben – aber die Menschen, die in einem politischen Gemeinwesen leben, sind keine Untertanen, sondern haben ein Herz, das nach Gerechtigkeit und Frieden auch mit politischen Mitteln suchen lässt.

Nächstenliebe ist keine Fernstenliebe. Zu bekunden, alle Menschen zu lieben, ist billig. Die „Nächsten“ zu lieben, ist wertvoll. Es ist schwer und gut zugleich. Nächstenliebe ist Ethik auf Augenhöhe und Sichtweite. Mein „Nächster“ ist der Mensch, den ich sehe. In meiner Familie, in meiner Gemeinde, in meinem Land, in meinem Beruf kommen viele Menschen in meinen Gesichtskreis, von denen ich zwar vielleicht manche lieber nicht sehen will, die ich aber nur dann als meine „Nächsten“ verkennen kann, wenn ich bereit bin, die Augen vor der Realität zu verschließen – oder blind vor Zorn, blind vor Hass, blind vor Hochmut, blind vor Angst und Verzweiflung. Das Gebot der Nächstenliebe öffnet die Augen für Menschen, mit denen ich zu tun habe und für die ich Verantwortung übernehme.

Überfordere dich nicht

 

Das Gebot der Nächstenliebe enthält eine Priorisierungsregel: Ich kann nicht überall zugleich sein, ich kann nicht mit allen Menschen gleichermaßen solidarisch sein, selbst wenn ich wollte. Ich muss Prioritäten setzen – und soll in meiner Nähe anfangen, weil ich dort handeln kann. Das Gebot der Nächstenliebe spiegelt die Begrenztheit des menschlichen Lebens. Aber es macht diese Grenzen nicht zu Sperrzonen. Es sagt: Verschließ deine Augen nicht vor denen, die zu dir kommen, auch wenn sie dir fremd sind.

Das Gebot sagt auch: „Überfordere dich nicht. Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“. Selbstausbeutung ist die große Schwester des Helfersyndroms. Die Konsequenz ist aber nicht, den Egoismus zu feiern, sondern mit den eigenen Kräften hauszuhalten und die andere Person nicht zum Objekt meiner Moralität zu machen.

Nächstenliebe als „Bruderliebe“ verstehen

Das Johannes-Evangelium fördert die Konzentration und weitet den Blick. Im Abendmahlssaal spricht Jesus die Seinen an. Nächstenliebe ist bei Johannes „Bruderliebe“, also innerkirchliche Geschwisterliebe – aber nicht exklusiv, sondern positiv. In der gefährlichen Krise der Passion bedarf es des Zusammenhaltes derer, die Jesus nachfolgen – weil sonst seine Verheißung, dass Gott Liebe ist, zu einer schönen Erinnerung verkäme, aber nicht befreiende Botschaft und motivierende Kraft bliebe. Jesus hat die Seinen nicht geliebt, weil er andere hasst oder ausblendet, sondern weil er auf ihr Zeugnis setzt, in der Kraft des Geistes die Liebe Gottes glaubwürdig zu bezeugen.

Dieses Zeugnis abzulegen, ist schwer genug – damals wie heute. Es gibt den Verrat – ist es dennoch möglich, Judas nicht zu verdammen? Es gibt die Herrlichkeit Gottes – ist es dennoch möglich, in der Kirche auf dem Boden zu bleiben? Es gibt die Glaubensgeschwister, aus aller Herren Länder – ist die Kirche ein Ort der Solidarität über die eigenen Grenzen hinaus? Nötig wäre es, möglich auch. Der Gradmesser ist die Liebe, privat und politisch, kirchlich und sozial.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 5. Sonntag der Osterzeit / Lesejahr C finden Sie hier.

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