BIBEL AM SONNTAG (4. Sonntag d. Osterzeit/C)

Stephan Orth: Wem geben wir Macht über uns?

Anzeige

Anderen die Schuld zu geben, ist einfach. Dabei muss die Frage erlaubt sein, wem geben wir eigentlich die Macht, fragt Stephan Orth.

Das Bistum Münster ist gerade ohne Diözesanbischof, die Weltkirche hat mit Leo XIV. einen neuen Papst. Derweil bringen sich in der politischen Welt andere Hirtinnen und Hirten in Position. Da ist Friedrich Merz, der neue Kanzler. Wochenlange Koalitionsverhandlungen. Ein zähes Ringen um Kompromisse, erste Risse in der Stabilität der künftigen Regierung – waren die Rechtsextremisten in Wahlumfragen Anfang April doch nur noch zwei Prozentpunkte von der Union entfernt.

Oder Frankreich, wo Marine Le Pen nach dem Urteil gegen sie von demokratischen Verschwörungen gegen sich wettert und damit nicht nur die Prinzipien rechtsstaatlicher Justiz infrage stellt, sondern das demokratische System selbst. Da ist Donald Trump, der zwar fest im Sattel sitzt, sich aber mit drastischen Entscheidungen und kalkulierten Provokationen ständig im Rampenlicht hält – mit einem „Wording“, das jedweder Vernunft entbehrt. Konnte man das wirklich nicht wissen? Oder wollten viele einfach nicht hinsehen?

Wie verhält sich die breite Mehrheit?

Die Lesungen vom 4. Sonntag der Osterzeit / Lesejahr C zum Hören finden Sie hier.

Was all diese Situationen und Personen verbindet, ist das Thema von Führung, von Unterscheidung, von Verantwortung. Und damit sind wir mitten im Evangelium vom „guten Hirten“. Doch statt sich in der x-ten Tirade über Klerikalismus irgendwelcher Bischöfe oder Priester zu echauffieren, statt den x-ten Beitrag darüber zu schreiben, was einen guten von einem schlechten Hirten unterscheidet, will ich den Blick weglenken von den Einzelpersonen, auf die es sich so oft hin zuspitzt. Denn es sollte hinlänglich bekannt sein, was einen „guten Hirten“ ausmacht.

Stattdessen erwische ich mich immer häufiger bei der Frage: Ist es nicht zu einfach – ja bequem –, die Verantwortung für Machtmissbrauch in Kirche und Politik, für Demagogie und den Verfall demokratischer Prinzipien lediglich Einzelpersonen zuzuschreiben? Denn wo wären diese „Hirten“ ohne ihre „Herden“? Wo wären die Trumps, die Le Pens, die narzisstisch inszenierten Frömmigkeitsführer ohne ihre Unterstützer – ohne breite Mehrheiten, die zuschauen und schweigen?

Nur nicht auffallen

Im Rahmen der Münsteraner Missbrauchsstudie von 2022 bleibt mir ein Wort besonders in Erinnerung: „Bystander“. Das ist jemand, der dabeisteht, ohne sich einzumischen – der trotz offensichtlicher Missstände tatenlos bleibt. Mit Blick auf die Studie sind das Menschen, die bewusst wegschauen, nicht unangenehm auffallen wollen, die allein durch den Titel „Pastor“ eine quasi gottgegebene Autorität postulieren – und dadurch Missbrauch jeglicher Couleur überhaupt erst ermöglichen: sei er sexueller, spiritueller oder struktureller Natur. Die Übergänge sind fließend.

Man könnte sagen: Viele Taten liegen lange zurück. Viele Täter sind verstorben. Vieles ist nicht mehr zu ahnden. Das mag stimmen. Doch dabei stehenzubleiben hieße, die Augen vor weiterwirkenden Dynamiken zu verschließen. Gerade so könnten neue Missbräuche begünstigt werden.

Eine ständige Herausforderung

So zeigen auch die eingangs genannten Beispiele: Das Thema ist nicht abgeschlossen. Umgang mit Macht bleibt eine ständige Herausforderung – nicht nur in der Kirche. Das Evangelium dieses Sonntags zeigt, was es braucht, damit die sogenannten „Schafe“ – völlig unterschätzte und eigentlich hochintelligente Tiere – einem Hirten zuhören: das Gefühl, gesehen und verstanden zu sein. Mut. Hoffnung. Die Verheißung, mehr zu sein. Und wenn nicht ewiges Leben, dann vielleicht ein „golden Age“ – siehe Washington …

Denn die Hirten – auch die guten – verweisen nicht nur auf etwas Größeres, ihre Macht speist sich aus der Verschmelzung von Botschaft und Person. Auch das zeigt der Text, wenn Jesus sagt: „Ich und der Vater sind eins.“ Wenn das so ist, ist es entscheidend zu unterscheiden. Zwischen guten und schlechten Führungspersönlichkeiten. Zwischen echter Hoffnung und falschen Versprechungen. Zwischen Wahrheit und Lüge. Zwischen Freiheit und Abhängigkeit.

Nur: Das ist unser Job. Damit liegt es in der Verantwortung jedes Einzelnen – in der Verantwortung der „Schafe“ –, wem wir Macht über uns geben, wem wir vertrauen, auf welche Stimmen wir hören und wem wir unsere Stimme geben. Wir müssen keine „Bystander“ sein.

Wer also einen guten Hirten will, darf nicht schweigen, nicht einfach zuschauen, wenn Unrecht geschieht – in Kirche, in Politik, im Alltag.

Sämtliche Texte der Lesungen vom 4. Sonntag der Osterzeit / Lesejahr C finden Sie hier.

Anzeige