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Eine große Datenrecherche von „Frankfurter Allgemeiner Zeitung“ und FAZ.net über den Umgang der deutschen Diözesen mit der Aufarbeitung von Missbrauch lässt das Bistum Münster bei Zahlungen an Betroffene, bei deren Beteiligung und der Aufklärung von Verantwortlichkeiten nicht gut wegkommen. Zu Unrecht, sagt Experte Stephan Baumers, Mitarbeiter in der Stabstelle Intervention und Prävention im Bischöflichen Generalvikariat Münster, im Interview mit "Kirche-und-Leben.de".
Herr Baumers, laut Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) wurden in diesem Jahr durchschnittlich 7.811 Euro als Anerkennung des Leids an von Missbrauch Betroffene im Bistum Münster gezahlt. Das ist rund die Hälfte der durchschnittlichen Zahlungen aller Bistümer. Woher kommt dieser Unterschied?
Zurzeit haben wir 186 Anträge bei der Unabhängigen Kommission für Anerkennungsleistung in Bonn vorliegen. Davon sind 145 Anträge Altanträge beziehungsweise Folgeanträge nach der Neuordnung sowie 41 Erstanträge. Knapp 50 sind bearbeitet und entschieden. Daraus ergibt sich eine Neubewertungs-Gesamtsumme von 662.000 Euro. Tatsächlich sind es 414.000 Euro, die durch die Kommission ausgezahlt werden. Das ergibt sich daraus, dass die bereits geleisteten Zahlungen mitangerechnet werden. So kommt es ungefähr auf den von der FAZ genannten durchschnittlichen Anerkennungs-Betrag von 7811 Euro in diesem Jahr.
Bistümer zahlen bis zu 50.000 Euro als Anerkennung des Leids, im Bistum Münster betrug laut FAZ die höchste Zahlung nur 15.000 Euro. Warum?
Das ist schlichtweg falsch. Die höchste Summe, die durch die Unabhängige Kommission als Zahlung zur Anerkennung des Leids für einen Fall aus dem Bistum Münster angewiesen wurden, waren genau 50.000 Euro. Die zweithöchste Summe waren 45.000 Euro, danach 30.000 Euro. Wir haben durchaus höhere Summen als die genannten 15 000 Euro gezahlt.
Derselben Recherche zufolge sind erst 28,6 Prozent der Anträge aus dem Bistum Münster bearbeitet worden – auch das sei unter dem Bundesdurchschnitt von 32,7 Prozent. Woran liegt dieser Unterschied?
Das liegt daran, dass alle Anträge bei der Kommission in Bonn liegen. Dort wird eine Gewichtung vorgenommen – so werden beispielsweise Antragsteller, die in den 1930er und 1940er Jahren geboren wurden, bevorzugt behandelt. Dasselbe gilt für Personen, die schwer erkrankt sind. Bei 186 Anträgen, die dort aus dem Bistum Münster vorliegen, sind immerhin ein Drittel bearbeitet. Das entscheidet die Unabhängige Kommission aber tatsächlich selbstständig. Mit 186 Anträgen kommen die meisten Anträge aus dem Bistum Münster – das kann man positiv oder negativ sehen.
Wie erklären Sie sich das?
Das hat definitiv auch damit zu tun, dass wir im Bistum aktiv auf die Betroffenen zugegangen sind und zugesichert haben, sie bei diesem Weg der Anerkennungsanträge zu unterstützen. Das dürfte zumindest ein profunder Grund dafür sein, dass die meisten Anträge in Bonn aus unserem Bistum stammen.
Wie erklären Sie sich, dass so viel weniger Anträge aus den anderen Bistümern kommen?
Ich weiß von zwei Bistümern, die wie wir auch den direkten Weg zu den Betroffenen gesucht haben. Alle anderen haben das nicht getan. Dafür mögen sie ihre Gründe gehabt haben – womöglich auch eine gewisse Scheu, noch mehr Geld auszugeben.
Nach unserer Kenntnis stammen zehn Prozent aller Anträge allein aus dem Bistum Münster. Bei 27 Bistümern in Deutschland fragt man sich, was die anderen tun …
Ganz genau. Darum rutschen wir in der Statistik natürlich auch weit nach unten.
Noch einmal zur Klärung: Über die Zahlung von Anerkennungsleistungen für Betroffene entscheiden nicht die Bistümer, sondern diese Unabhängige Kommission, die die Bischofskonferenz in Bonn eingerichtet hat?
Richtig. Wir haben keinerlei Handhabe. Wir helfen wohl dabei, diese Anträge vorzubereiten und nach Bonn zu schicken. Aber die Kommission entscheidet ganz eigenständig und immer bezogen auf den Einzelfall über jeden einzelnen Antrag.
Wenn erst ein Drittel der Anträge bearbeitet ist: Wie könnte das beschleunigt werden?
Ich glaube schon, dass niemand mit einer solchen Fülle von Anträgen gerechnet hat – schon gar nicht, dass Bistümer so aktiv auf die Betroffenen zugehen und sie ermutigen, wie wir das im Bistum Münster getan haben. Allerdings muss man der Kommission zugutehalten: Alle Mitglieder dort übernehmen diese Aufgabe ehrenamtlich! Sie tun wirklich alles für sie Mögliche. Wenn der Eindruck entsteht, da werde erneut vertuscht, kann ich die Enttäuschung, die daraus spricht, einerseits verstehen – andererseits sehe ich keinen Beleg dafür. Immerhin sind innerhalb eines Jahres 53 Anträge allein aus unserem Bistum bearbeitet, also – wie gesagt – ein Drittel. Das ist mehr, als wir erwarten konnten.
Auch mit Blick auf die Einrichtung von Betroffenen-Beiräten kommt das Bistum schlecht weg …
So rot wie das Bistum da auf der interaktiven Deutschlandkarte der FAZ leuchtete, könnte man meinen: Bei uns gibt es keinen Betroffenenbeirat, und den wird es auch nicht geben. Das stimmt natürlich so nicht. Es gibt eine Gruppe von Betroffenen, die sich auf den Weg gemacht haben. Für den 5. Februar plant sie ein Vernetzungstreffen von Betroffenen – ohne dass das Bistum daran irgendwie beteiligt wäre. Darüber haben wir ja auch im Interview mit „Kirche-und-Leben.de“ berichtet.
Die Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungskommission stellt die FAZ für das Bistum Münster als „in Planung“ dar. Dabei arbeitet sie bekanntermaßen bereits seit 2019. Die Vorstellung der Ergebnisse dieser unabhängigen Historikerkommission ist in wenigen Monaten zu erwarten. Wie ist der Stand?
Dazu weiß ich überhaupt nichts. Das liegt aber in der Natur der Sache, denn die Historikerkommission arbeitet ja in der Tat unabhängig vom Bistum. Dass der Leiter der Studie, Professor Thomas Großbölting, unlängst in der Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken über den Stand der Untersuchungen im Bistum Münster berichtet hat, haben wir aus den Medien erfahren. Auch daran mögen Sie erkennen, wie unabhängig die Kommission arbeitet. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es etwa für den Rechtsanwalt Gercke, der das Missbrauchs-Gutachten für das Erzbistum Köln erstellt hat, undenkbar gewesen wäre, ohne Genehmigung durch die dortige Bistumsleitung irgendwelche Inhalte zu präsentieren – schon gar nicht außerhalb des Erzbistums. Soviel ich weiß, sollen die Ergebnisse der Historikerkommission an der Universität Münster für unser Bistum im Juni 2022 vorgestellt werden. Wir rechnen mit einem Paukenschlag.
Die Ergebnisse der Datenrecherche von Frankfurter Allgemeiner Zeitung und faz.net finden Sie hier.