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Schlicht, licht, runde Sache: Berlins Hedwigskathedrale öffnet wieder

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Nach sechs Jahren Umbau wird Berlins Hedwigskathedrale am Sonntag wiedereröffnet. Kirche+Leben konnte bereits einen exklusiven Blick hinein werfen.

Wenn in den Hauptstädten von zwei der größten Länder Europas – in Frankreich und in Deutschland – im Abstand von zwei Wochen deren katholische Kathedralen nach jahrelanger Schließung wieder öffnen, könnte der Unterschied größer dennoch nicht sein. Als Notre Dame in Paris brannte vor fünf Jahren, war das eine nationale Katastrophe. Trotz aller Staats-Kirche-Trennung ging nicht weniger als das Herz der Nation in Flammen auf. 

Entsprechend stand dessen Wiederauferstehung von Anfang an unter präsidialer Weissagung: In fünf Jahren wird dieser Tempel wieder errichtet sein, prophezeite Emmanuel Macron, da war die Asche noch nicht kalt. Siehe, so geschah es. So wird es sein am 8. Dezember, dem Hochfest der ohne Erbsünde empfangenen Gottesmutter Maria. Unserer Lieben Frau. Notre Dame.

Mitten in Berlin Mitte

In Berlin sieht die Sache in jederlei Hinsicht schlichter aus. Wenngleich die Umbauarbeiten auch ohne äußere Katastrophe ein Jahr früher begannen, sodass man sich vorgenommen hatte, wenigstens vor Paris fertig zu werden. Das gelingt knapp: Am 24. November öffnen die Portale wieder. Die katholische Kathedrale der deutschen Hauptstadt genießt freilich weit weniger Prominenz, trotz der Lage mitten in Berlin-Mitte. Zwar nahe dem mächtigen evangelischen Berliner Dom, Fernsehturm, Unter den Linden, man ahnt Brandenburger Tor, Bundestag und Kanzleramt, um die Ecke Museumsinsel und Humboldt-Universität, gleich nebenan die Kulturtempel Staatsoper und Pierre-Boulez-Saal. Aber dann doch wie ein wenig verschämt zurückgesetzt am Bebelplatz.

Hedwigskathedrale ist etwas anderes als Notre Dame. Nicht nur weil der Berliner Rundbau keine majestästische Hochgotik bietet, sondern in den Ursprüngen wenig auftrumpfendes preußisches Rokoko von 1747. Neun Tage vor der Wiedereröffnung muss man ihn geradezu suchen hinter all den sternenbekrönten weißen Plastikzelten eines Weihnachtsmarkts.

Woelkis Dialogloch

Womöglich ist das aber alles auch ganz passend und gewollt und sogar forciert, wenn man sich anschaut, was innen aus dem Rokoko-Rondell geworden ist. Womöglich passt das alles jetzt viel besser für eine katholische Bischofskirche 2024, zumal in einer im Großen und Ganzen immer säkularer werdenden Gesellschaft. Erst Recht im welttrubeligen Berlin dieser Zeit aus Politgetöse, Konsumschlacht und Oberflächenblingbling.

Gleichwohl und etwas flapsig gesagt, war die sechsjährige Schließung nicht nur wegen dringend nötiger Renovierungsmaßnahmen angesagt, sondern auch, weil der damalige Berliner Erzbischof Rainer Maria Woelki es leid war. „Wenn ich am Altar die Messe zelebriere, fällt das Dialogische ins Loch“, klagte er und meinte damit eine gewaltige Öffnung mitten im Kirchraum und vor dem Altar, die Blick und Stiegen freigab zu den Gräbern der Berliner Bischöfe und – für manche: vor allem – zum seligen Nazi-Widerstandskämpfer und Dompropst Bernhard Lichtenberg, gestorben auf dem Weg ins KZ Dachau am 5. November 1943.

Römisches Vorbild

Auch ohne Pariser Katastrophe: Ein Berliner Beben jetzt wäre daher nicht überraschend, denn das besagte Loch ist weg, geschlossen, verschwunden. Was in Rom seit Jahrhunderten gang und gäbe ist – ein Confessio-Altar über den begehbaren Gräbern bedeutender Heiliger wie dem heiligen Petrus im Petersdom, Paulus in St. Paul vor den Mauern, über dem von Papst Martin V. in der Lateranbasilika oder über der heiligen Krippe in Santa Maria Maggiore: In Berlin hat man sich nun dagegen entschieden. 

Oder besser: Für etwas anderes, wenngleich auch hier mit römischem Vorbild. Die Berliner Verantwortlichen lenken den Blick einfach nicht mehr nach unten, sondern nach oben und umzu. Unversehens weiß sich jeder ans Pantheon erinnert, den kreisrunden römischen Kuppelbau, im zweiten nachchristlichen Jahrhundert von Kaiser Hadrian vollendet und allen Göttern Roms geweiht, seit 609 dann christliche Kirche. Deren Kuppel gilt mit ihren 43,44 Metern (150 Fuß) Durchmesser als die größte der Welt, jene im Petersdom hat Michelangelo respektvoll knapp zwei Meter kleiner gehalten. Die in St. Hedwig bringt es auf 33 Meter, bis 2023 gekrönt von einem goldenen Kreuz über bereits verglaster Öffnung. Jetzt hat man es auf den Tympanongiebel am Hauptportal versetzt.

Relevanzverschiebung und neue Mitte

In Rom ist die Pantheonkuppel offen – für meteorologischen wie geistlichen Niederschlag, wenn etwa zu Pfingsten tausende Rosenblätter durch sie hinabrieseln, um an die Feuerzungen des Heiligen Geistes zu erinnern. In St. Hedwig bleibt das Dach zwar geschlossen, ein durchsichtiges Fenster hält den Regen draußen, den Blick in den Himmel über Berlin aber offen. 

Und so gibt es nun unsichtbar eine neue, vertikale Achse, eine Relevanzverschiebung. Eine neue Mitte, um die herum sich das Wesentliche ordnet: Oben also besagtes Himmelsloch, direkt darunter der funkelnagelneue Altar und wiederum exakt unter ihm im nunmehr überdeckten, Krypta genannten Unterbau – das Taufbecken. 

In der Krypta

Dorthin geht es jetzt nicht mehr über mehrere Treppen im Woelkischen Dialogloch, sondern unmittelbar nach Betreten der Kathedrale durch den zentralen Eingang über einen düsteren Abgang, noch vor dem Hauptraum. Unten liegen rund um den Taufstein wie eh und je in tiefgrauer Tünchung mehrere Seitenkapellen, darunter jene für die verstorbenen Bischöfe, eine für eine Hedwigsfigur, eine für eine Pietà, eine für eine berühmte neapolitanische Krippe, eine für die stille Anbetung des Allerheiligsten und schließlich eine für das Grab des seligen Propstes. 

Taufe und Taufbekenntnis sind also umgeben von Bekennern und Glaubensbrüdern. Bekennerinnen und Glaubensschwestern beschränken sich auf die besagten Holzplastiken von Maria und Hedwig und einige kleine Gedenktafeln etwa für Lichtenbergs mutige Mitstreiterin Margarete Sommer. 

Exakt über dem Taufbecken dann oben im nahezu weißen Hauptraum der neue Altar. Also Christus symbolisch und sakramental, und die österliche Eucharistie-Gemeinschaft der Lebenden kreisrum, die die Altvorderen im wahrsten Sinn des Wortes unter sich wissen – und den Himmel, die Hoffnung auf Auferstehung, den Gottesraum, über sich.

Sternenfenster und drei Könige

Was da als Sternenbild zu sehen wäre, begäbe man sich an exakt dieser Stelle zurück ins Jahr Null, zur großen Zeitenwende, das greifen die großen Kirchenfenster rundum auf: Was wie Blasen im milchigen Glas wirkt, sind tatsächlich exakt berechnet die Berliner Himmelskörperkonstellationen, denen vor 2000 Jahren im fernen Morgenland die Weisen folgten. Wenn man bedenkt, dass die Halbkugel der Kuppel exakt dieselbe Höhe hat wie der Raum, auf dem sie sich erhebt, lässt sich freilich auch eine ganze Kugel ahnen. Und dann ist der Globus, wie er da im All schwebt, nicht mehr weit. 

Die hellen Sternenfenster spielen womöglich auch an auf die Anbetung der Könige im Eingangstympanon der Kathedrale – und mancher mag an den Schrein der heiligen Drei in der Kölner Kathedrale denken, aus der in jüngerer Zeit neben Woelki zwei weitere Berliner Bischöfe stammen: Joachim Meisner und der amtierende Heiner Koch. Wer weiß ...

Lebendige Steine

Der Altar indes nimmt das Gottesvolk ganz heutig zusammen: In Form einer nach oben offenen Halbkugel entstand er aus kleinen Steinen, die vor allem Menschen aus dem Bistumsgebiet in Berlin, Brandenburg, Vorpommern und Sachsen-Anhalt beisteuerten, aber auch Menschen aus vielen anderen Ländern. Vor eineinhalb Jahren hatte der Erzbischof die rund 370.000 Mitglieder des Erzbistums aufgerufen, mit Steinen, die für sie selbst von Bedeutung sind, ihr Leben symbolisch in den neuen Altar einzubringen. 

Sie wurden anschließend einem Gemisch aus Sand, Kies und Weißzement beigefügt, aus dem der Altar entstand. Einige stammen zudem aus der Ukraine, aus Israel und Palästina, aus dem Iran und dem Irak, auch Mitglieder anderer Kirchen haben sich beteiligt, insgesamt 2.000 Menschen. 

Affront!

Nun kann man das so leicht sagen, einfach den Blick nach oben und umzu lenken. Doch lässt sich der zurück ja nicht einfach verbieten – vor allem jenen nicht, die das Gedenken des seligen Bernhard Lichtenberg verstellt, gar missachtet sehen und laut „Affront!“ rufen, wenn nicht gar, wie auch in Kirche+Leben zu lesen war, die Zerstörung eines historischen Gedenkorts beklagen. 

Ganz gewiss werden sich viele, die bis zur Renovierungs-Schließung 2018 in der Hedwigskathedrale ihre Gottesdienstheimat hatten, die Augen reiben. Alle vertraute Schwere schwarzen Marmors, dunkelgrün gefasste Bögen, strenge Bankreihungen in klassischer Sechzigerjahre-Manier sind ausgeräumt.

Jenseits der Bedenkenfehden

Und doch kann es ganz gewiss auch ganz anders sein – erst recht für jene, die gänzlich unwissend, unvoreingenommen und freien Blickes den neuen Raum betreten. Denen fällt es ganz leicht, das alles beiseite zu lassen – die Bedenkenfehden und auch die Betriebsamkeit der Gewerke noch neun Tage vor Eröffnung. 

Dafür sorgt, was da nun zu sehen ist, auf geradezu wundersame Art. Es ist ein Leichtes, sich für diesen neuen lichten Raum aus Weiß und Naturstein, dezentem Eichenholz, silbernen Orgelpfeifen und Spuren von Gold zu begeistern. Erhebend ist er geworden, dieser Raum, von einer Weite, die zugleich nach oben zieht in die bergende Kuppel. Die ist, genau betrachtet, eine innen neu eingebaute Kuppel, weiß getüncht mit mathematisch ausgefuchstem Muster, in dem keine Form der anderen gleicht. Ganz so wie die Menschen unten im Gemeinderund. 

Wie sitzt der Bischof?

Die mächtigen Doppelsäulen an den Seiten bleiben dezent, fast filigran, rahmen Konchen, in denen die heilige Maria zur Linken, der heilige Petrus zur Rechten, der Tabernakel vorn links, ein Bibelpult vorn rechts zu stehen kommen. Dazwischen immer wieder und wie schon früher Raum für einige Gläubige. 

Die sitzen sonst im Großen und Ganzen in sieben Blöcken zu je 70 auf feinen, dezent mit schwarzem Filz besetzten Stühlen rund um den runden Altar. Die Sedilien für liturgische Dienste und Priester sind ihnen ähnlich, allein die Kathedra, der Bischofsstuhl, unterscheidet sich durch eine etwas höhere Lehne und andersfarbige Polsterung.

Gebaute Synodalität

Hier ist ein Raum von stiller Klarheit, lichter Weite und bergender Höhe entstanden – rund um ein klares Zentrum: jene unsichtbare vertikale Säule vom Himmel über die auf der Erde Lebenden bis zu den in ihr begrabenenen Verstorbenen; von der Taufe über die Eucharistie zum Ewigen Leben; von den Bekennern der Vergangenheit über die feiernde Gemeinde der Gegenwart zur himmlischen Gemeinschaft mit Gott in Ewigkeit.

Dies ist ein Sammlungsraum für Menschen heute, ihre Anliegen, ihre Sorgen, ihre Hoffnungen. Eine Bischofskirche, die in ihrem Kreisrunden und dem Verzicht auf irgendwelche Erhöhungen oder übermäßiges Herausstellen des Bischofsstuhls fast so etwas wie gebaute Synodalität zeigt. Und, natürlich: Auch das Gedenken der Zeitgeschichte hat ihren Ort. Aber es dominiert nicht alles andere, ist nicht das Zentrum, hebt auch hier niemanden heraus, sondern ordnet sich buchstäblich dem Eigentlichen unter.

“Hoffnung für die Stadt”

Wichtig seien die Menschen, die sich an diesem neuen alten Ort engagieren, sagte Heiner Koch. Da sei einiges zu tun. Auch Konzerte oder Lesungen könne er sich dort gut vorstellen, Gastfreundschaft und Achtsamkeit und die Sorge für Menschen in Not wünscht er sich ebenfalls. Ja, sagt er sogar, die Kathedrale sei ein Zeichen der Hoffnung für alle Menschen in der Stadt. 

Das sollten Selbstverständlichkeiten sein für jeden Kirchraum, erst recht für die katholische Kathedrale in Deutschlands säkularer Hauptstadt. Dass Koch das so deutlich betont, macht fast ein bisschen besorgt darüber, wie und ob das wirklich gelingen kann, als Kirche noch ein Zeichen der Hoffnung für die Menschen in der Stadt zu sein.

Exklusiver Zirkel und “Jetztraum”

Zumal die „runde Sache“, wie der Erzbischof die neue Hedwigskathedrale von Berlin mit Recht nennt, auch eine Gefahr in sich birgt: die des exklusiven Zirkels, eines geschlossenen Kreises, in den man umso mutiger hinzutreten muss und sofort, ob man will oder nicht, Teil dieser Gemeinschaft ist. Das kann bergen, aber auch vereinnahmen – und, womöglich ohne es zu wollen, ausgrenzen.

Das soll ein „Jetztraum“ verhindern, ein kleines Rund nahe der Sakristei, aber doch außerhalb des Gottesdienstbereichs. Eine dezente Einladung an jene, die sich ohne Religion und Glaube nähern möchten, traurig sein, Last hinlegen, Wünsche und Bitten loswerden oder schlichtweg ihre Ruhe haben wollen.

Kosten und Werte

Natürlich, so ein Bau kostet sein Geld, Architekten, Handwerker und Material wollen bezahlt sein, mit 44,2 Millionen Euro ist die Kalkulation von 2016 um lediglich eine Million überschritten. Und doch atmet die Hedwigskathedrale trotz aller technischen Raffinessen wie einer punktgenauen, von zentraler Stelle ausstrahlenden Lautsprechertechnik oder in den Fensternischen unauffällig ausfahrbaren Kameras für Live-Streams in ihrer Leichtigkeit und Schlichtheit eine beinahe bescheidene Modernität.

Das passt gut in diese Zeit – und erst Recht zu jener Zeit, als die Pläne für den Umbau reiften. 2016 war es, als Erzbischof Koch das Projekt öffentlich verkündete. Zwei Jahre zuvor hatte sich ein Oberhirte in Limburg den Namen Protzbischof zugezogen. Seitdem sind Transparenz und Bescheidenheit, Umgang mit Macht und Beteiligung zu ganz eigenen katholischen Werten geworden. 

Die Berliner Hedwigskathedrale manifestiert diesen Anspruch architektonisch und liturgisch. Doch es ist gute katholische Überzeugung: Jedes Bekenntnis muss sich im Leben bewähren. Und bewahrheiten.

Geld und Geschichte
Die Geschichte der Berliner St.-Hedwigs-Kathedrale ist eine Geschichte der Metamorphosen. Der Bau entstand auf Initiative von Friedrich dem Großen. Geweiht wurde der runde Kuppelbau am 1. November 1773. Seitdem wurde die Kirche immer wieder umgestaltet. Der lange Zeit stärkste Eingriff fand nach dem Zweiten Weltkrieg statt, in dem Bomben die Kathedrale bis auf die Umfassungsmauern zerstörten. Bis 1963 baute sie der renommierte Düsseldorfer Architekt Hans Schwippert innen in modernen Formen wieder auf – samt der Bodenöffnung im Zentrum. 
Die prognostizierten Gesamtkosten für den Umbau der Kathedrale und des benachbarten Bernhard-Lichtenberg-Hauses belaufen sich nach Bistums-Angaben auf 78 Millionen Euro, statt ursprünglich 60 Millionen Euro. Zwölf Millionen Euro Zuschüsse kamen vom Bund, acht Millionen Euro vom Land Berlin. Ferner geben die deutschen Bistümer zehn Millionen Euro dazu. Laut Erzbistum konnte eine ursprünglich erhoffte zusätzliche Unterstützung in Höhe von weiteren zehn Millionen Euro durch einzelne Bistümer „nicht realisiert werden“. Ferner seien aus ganz Deutschland rund 600.000 Euro Spenden eingegangen.

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