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Der Volkswirt und Caritas-Experte Georg Cremer widerspricht in seinem neuesten Buch vehement der Behauptung, in Deutschland gebe es nur noch einen „Suppenküchen-Sozialstaat“.
Gleich im ersten Satz beugt der Autor einem Missverständnis vor: „Nein, es ist nicht alles gerecht in Deutschland“, schreibt Georg Cremer, der von 2000 bis 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbands war. Damit scheint der Autor auf den ersten Blick dem Titel seines Buches – „Deutschland ist gerechter als wir meinen“ – zu widersprechen.
Doch der Volkswirt verfolgt ein anderes Ziel: Cremer hält die Sozialpolitik zwar schon in bestimmten Punkten für verbesserungsbedürftig, nimmt aber vor allem den bestehenden Sozialstaat in Schutz. „Folgenlose Empörung hilft nicht, aber eine differenzierte politische Debatte sehr wohl“, meint Cremer. Zugleich warnt er davor, die Lage früherer Jahrzehnte zu verklären.
„Der Niedergangsdiskurs in Deutschland lähmt und entmutigt“
„Der Niedergangsdiskurs, der sich in Deutschland breit gemacht hat, ist gefährlich“, mahnt der Caritas-Experte. „Er lähmt und entmutigt.“ Lediglich darüber zu nörgeln, es werde alles immer nur schlimmer und desaströser, spiele den populistischen Kräften in die Hände. Diese Haltung verstärke die Ängste in der Mitte der Gesellschaft.
So spricht etwa der Paritätische Wohlfahrtsverband wiederholt von einem neoliberalen Sozialabbau. Und Christoph Butterwegge, Kandidat der Linkspartei für die Bundespräsidentenwahl 2017, behauptete, der Sozialversicherungsstaat werde mehr und mehr „zu einem Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchen-Staat“. Andere behaupten, es werde „kaputtgespart“, es herrsche ein „Spardiktat“.
Cremer: Stetige Verbesserung in allen Bereichen
Georg Cremer, „Deutschland ist gerechter als wir meinen. Eine Bestandsaufnahme.“ 272 Seiten, 16,95 Euro, Verlag C.H. Beck
Alles falsch und riskant, widerspricht Cremer und belegt seine Ansicht in seinem lesenswerten Buch anhand mehrerer Bereiche der Sozialpolitik: Überblicksartig geht er auf das Gesundheitswesen ein, auf die Rente, die Pflege, die Kinder- und Jugendhilfe sowie auf die Unterstützung von Menschen mit Behinderung.
Mit etlichen Statistiken belegt der Volkswirt akribisch, dass es fast in allen Bereichen eine stetige Verbesserung gegeben hat. Die Vergangenhei, die Nachkriegszeit bis in die 1980er Jahre, werde inzwischen fälschlicherweise als goldenes Zeitalter glorifiziert. Auch deshalb hält es Cremer nicht für angebracht, davon zu sprechen, es gebe derzeit nur noch einen „Suppenküchen-Sozialstaat“.
Grenzen der Sozialpolitik
Zugleich weist der Volkswirt darauf hin, dass der Sozialpolitik selbst in einem reichen Land wie der Bundesrepublik Grenzen gesetzt sind. Immerhin 900 Milliarden Euro, weit mehr als viele Menschen annehmen, zahlt der Staat jedes Jahr für die Sozialpolitik. Das entspricht laut Cremer fast 30 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung.
Die Finanzierungs-Frage dürfe nicht banalisiert werden, betont er. Denn höhere Ausgaben kann der Staat nur leisten, wenn Arbeitnehmer und Arbeitgeber stärker belastet werden. „Man kann nicht einfach alles fordern, was wünschenswert oder nützlich wäre“, stellt der Volkswirt fest. Es müssten Prioritäten gesetzt werden.
Reformbaustellen genannt
Differenziert, detailreich und nachvollziehbar begründet Cremer auch, welche Nachteile gerade für ärmere Bevölkerungsschichten ein bedingungsloses Grundeinkommen hätte. Und er nennt die Reformbaustellen: mehr Prävention zum Beispiel. Oder eine Stärkung von Familien, deren Eltern im Niedriglohnbereich arbeiten.
Diese Bestandsaufnahme zum Sozialstaat ist höchst informativ. Es ist ein empfehlenswertes Buch für alle, die in Fragen der Sozialpolitik mitreden wollen – gerade in einer Zeit, in der wieder intensiv über Reformen am Hartz-IV-System debattiert wird. Dass es streckenweise schwer zu lesen ist, liegt nicht am Autor, der verständlich formuliert, sondern an der Materie: Die Begriffe der Sozialpolitik sind nun einmal trocken und sperrig.