Wie eine 92-Jährige das Kontaktverbot in der Friedrichsburg in Münster erlebt

Corona-Quarantäne im Altenheim mit schweren und schönen Momenten

Wegen des Corona-Virus gilt im Altenheim Friedrichsburg in Münster bereits seit acht Wochen Quarantäne. Eine 92-Jährige erzählt nicht nur von der Schwere dieser Zeit, sondern auch von schönen Momenten.

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Die Tränen fließen recht oft in diesen Tagen. Weil die Situation ihr einiges abverlangt. Die Maßnahmen zum Schutz der Bewohner im Altenheim Friedrichsburg in Münster sind für alle nicht einfach zu meistern. Gertrud Weßler aber weint nicht aus Wut oder Verzweiflung, sondern aus einem anderen Grund. Die 92-Jährige ist gerührt. Weil die Quarantäne und Kontaktbeschränkung ihren Alltag zwar massiv verändert haben. Aber nicht überall zum Schlechten. „Und weil die Menschen hier im Haus sich so wunderbar um uns kümmern.“

Als sie am Sonntag im offenen Fenster sitzt und ihren Sohn das erste Mal wiedersehen kann, ist das ein großer Moment der Rührung. Sie hat sich schick gemacht, ein wenig Schminke, eine Bluse. Sonntags macht sie das immer. Heute aber hat sie einen doppelten Grund. Ihr Sohn kommt sonst regemäßig. In den vergangenen acht Wochen ging das aber nicht. Er hat eine Maske auf und sitzt ihr mit großem Sicherheitsabstand gegenüber.

 

Small-Talk in Corona-Zeiten

 

Sie reden über Alltägliches. Über das, was Alltag derzeit ausmacht. Smalltalk in Corona-Zeiten. „Das ist der Augenblick, den ich am meisten herbeigesehnt habe“, sagt sie. „Das hat mir richtig gefehlt.“ Eine so lange Zeit hat sie noch die darauf verzichten müssen. Und auch in den kommenden Wochen wird das nur begrenzt möglich sein. Drei bodentiefe Fenster sind für die Begegnungen aller Altenheimbewohner mit ihren Angehörigen eingerichtet worden – Anmeldungen, Fragebögen zur Gesundheit und Hygiene-Unterweisungen sind Pflicht.

Der Ausnahmezustand bleibt damit erst einmal. Viele Dinge, die dem Alltag von Getrud Weßler sonst Lebensqualität geben, sind noch nicht wieder möglich: Der Weg mit ihrer Betreuerin zum nahegelegenen Aasee oder zur Eisdiele, der wöchentliche Gottesdienst in der Hauskapelle und natürlich die häufigen Besuche ihrer Familie.

 

Sie singt viel

 

Sie wird ihre Lieben weiterhin häufiger via Facetime im Internet sehen als im direkten Kontakt. „Die Technik habe ich wie ein Wunder erlebt“, sagt sie. „Wenn ich das noch selbst bedienen könnte, würde ich es wohl ständig nutzen.“ Auch per WhatsApp und Instagram hat sie mit Hilfe ihrer Betreuer Verbindung halten können. „Das ist schon toll, wie das funktioniert.“

Was aber macht eine 92-Jährige den ganzen Tag, wenn das Freizeitprogramm in ihrem Wohnbereich durch Abstands- und Hygiene-Maßnahmen zurückgefahren wird? Wenn der Kontakt zu den Mitbewohnern reguliert wird, Gruppenangebote wegfallen und die Kapelle, in die sie so gerne geht, geschlossen ist? Als Antwort fängt sie an zu singen, wie so oft in diesen Tagen: „Ich möchte nochmal 20 sein…“ Schlager mag sie besonders gern, natürlich mit Tränen in den Augen. Mit ihrem Mann war sie 65 Jahre verheiratet, er starb vor fünf Jahren. „Es wäre schon schön, wenn er jetzt bei mir wäre.“

 

Nachrichten und „Rote Rosen“

 

Sie liest viel, noch mehr als sonst. Vor allem die Tageszeitung und Illustrierte. „Ohne Brille – mit 92!“, sagt sie nicht ohne Stolz. Sie will auf dem Laufenden bleiben, will wissen, wie es „mit Corona weitergeht“. Deshalb schaut sie auch gern Nachrichten im Fernsehen. Und die „Roten Rosen“, eine tägliche Serie. „Oft schaue ich auch einfach nur aus dem Fenster.“ Dorthin, wo sie im Augenblick nicht hindarf. Sie sitzt zwar im Rollstuhl, aber quirlig ist sie trotzdem. Kleine Spaziergänge im Innenbereich helfen, sind aber kein wirklicher Ersatz für ihre geliebte Strecke um den nahegelegenen Aasee.

Für ihre Lebendigkeit ist Gertrud Weßler bei ihren Mitbewohnerinnen und den Mitarbeitern im Haus bekannt. „Herzstück“, wird sie von Seelsorgerin Marion Woltering genannt. „Sie ist Energie pur.“ Woltering weiß, dass es für alte Menschen schwierig ist, wenn sich ihr Lebensrhythmus ändert. Feste Gewohnheiten bringen wichtige Orientierung im Alltag. Derzeit fallen einige davon weg. „Es ist toll zu erleben, wie sich hier im Haus alle bemühen, um das aufzufangen.“

 

Gottesdienst auf dem Bildschirm

 

Sie selbst macht das auch. Wenn sie sonst einmal in der Woche zum Gottesdienst in die Kapelle einlädt, steht sie jetzt dort allein vor einer Kamera. „In die Wohnbereiche wird das auf die Bildschirme in den Wohnzimmern übertragen.“ Dort sitzen die Senioren dann mit ausreichend Abstand in den Sesseln und auf dem Sofa. Auch Gertrud Weßler ist immer dabei.

„Die Corona-Situation hat einige neue Ideen gebracht“, sagt Woltering. „Gerade für die Gruppen in den einzelnen Wohnbereichen erlebe ich neue Ansätze für gemeinschaftsstiftende Angebote.“ Aus den Schutzmaßnahmen könnten neue Impulse für die Seelsorge entstehen. Die keineswegs geringere Qualität haben, sagt sie. „Sie sind anders, aber nicht schlechter.“ Nach einem Beispiel muss sie nicht lange suchen. „Bei Gesprächen müssen wir derzeit auf Nähe und direkten Kontakt verzichten.“ Und durch die Maske ist die Mimik halb verdeckt. Die fehlende Berührungsmöglichkeit wird aber durch eine andere Aufmerksamkeit abgelöst, sagt sie. „Der Blick-Kontakt, die Kommunikation mit den Augen, ist viel intensiver geworden.“

 

Konzert am offenen Fenster

 

Auch Gertrud Weßler erlebt in diesen Wochen viele Dinge, die den Verzicht auf Gewohntes wieder etwas aufwiegen. Da waren zum Bespiel die vielen kleinen Konzerte, die vor dem Altenwohnheim stattfanden. Kinderchöre sangen, Solisten spielten, auch Mitglieder des Sinfonieorchesters Münster waren dabei. Die Senioren saßen an offenen Fenstern und sangen mit. „Manchmal leise und nachdenklich“, sagt sie. „Manchmal laut und fröhlich.“ Letzteres gefiel ihr besonders.

Den Brief, den sie von zwei Grundschulkindern bekam, hat sie dankbar beantwortet. „Sie schrieben mir, dass ich gesund bleiben soll, dass ich durchhalten soll und dass sie für mich beten.“ Eine Aktion, die sie immer noch zu Tränen rührt. Es gab viele vergleichbar schöne Geschenke an die alten Menschen. Auch die Blumen, die ein Baumarkt spendete und die von den Bewohnern in den noch zugänglichen Außenbereichen eingepflanzt wurden, zählen dazu.

 

Normalität ist noch weit weg

 

Im Altenheim Friedrichsburg gibt es immer wieder Augenblicke, die helfen, die Corona-Krise zu vergessen. Dafür engagieren sich alle. Trotzdem kommen immer wieder auch traurige Gefühle hoch. Spätestens dann, wenn die Gedanken an die Familien aufkommen. Auch bei Gertrud Weßler ist das so. „Wenn ich merke, wie sie mir alle fehlen.“

Die neuen Besuchsmöglichkeiten werden ein wenig daran ändern. Von Normalität aber ist das noch weit entfernt. Von der Umarmung ihrer zwei Enkel genauso, wie von dem unbeschwerten Spaziergang oder vom gemeinsamen Gottesdienst in der Kapelle. Die Sehnsucht nach einer solchen Normalität schwingt in diesen Tagen immer mit, sagt sie. „Auch bei den vielen schönen Dinge, die ich trotz allem jetzt erleben darf.“