Interview zur kommenden Studie der Historiker-Kommission der Universität Münster

Das erwarten Betroffene vom Missbrauchs-Gutachten für das Bistum Münster

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Knapp drei Jahre hat eine Historiker-Kommission der Universität Münster im Auftrag des Bistums unabhängig untersucht, wie die Diözese seit 1945 mit Missbrauch umgegangen ist. Am 13. Juni werden die Ergebnisse vorgestellt. Bevor sie veröffentlicht werden und bevor sich Bischof Felix Genn dazu äußert, wollte „Kirche-und-Leben.de“ wissen, wie Betroffene auf diesen Tag zugehen. Sie sind eine Frau und drei Männer. Sie wurden von Priestern des Bistums Münster missbraucht. Sie haben begonnen, sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. Was erwarten diese Vier vom Gutachten? Was vom Bischof?

Sie haben als vierköpfige Gruppe im Februar erstmals ein Vernetzungstreffen für Menschen initiiert, die von Geistlichen im Bistum Münster missbraucht wurden. Was hat sich seitdem für Sie getan?

Thomas K. (Name v. d. Red. geändert): Von den Anwesenden wurde der deutliche Wunsch formuliert, weitere Vernetzungstreffen der Betroffenen stattfinden zu lassen, was auch geplant ist. Im Gespräch mit Bischof Felix Genn und Generalvikar Klaus Winterkamp haben diese uns zugesagt, entsprechende Treffen finanziell zu unterstützen.

Franz N.: Der Wunsch oder auch die Forderung vieler Betroffener, bei der Veröffentlichung des Gutachtens anwesend zu sein, wird möglich: Die Historiker-Kommission der Universität wird die Studie als Erstes exklusiv den Betroffenen präsentieren – zeitlich noch vor dem Bischof und den Bistums- und Pressevertretern.

Mit welchen Gefühlen gehen Sie – zwölf Jahre nach Öffentlich-Werden des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche, vier Jahre nach der MHG-Studie und drei Jahre nach Auftragsvergabe an die Historikerkommission – auf die Veröffentlichung der Studie zu?

Thomas K.: Ich habe eine vorsichtige Hoffnung in Richtung: „Die Wahrheit wird euch freier machen!“ Konkrete Namen werden genannt, kirchliche Schmuddelecken ausgeleuchtet werden. Innere und auch aktive Auseinandersetzungen mit den lebensbestimmenden Folgen meines Missbrauchs und mit den kirchlichen Vertuschungsbemühungen haben mich über viele Jahre gequält. Durch eine klare Zuordnung von Schuld und Versagen erwarte ich eine seelische Entlastung und erhoffe zusammen mit den anderen Betroffenen, einem Gefühl von mehr Gerechtigkeit näher zu kommen.

Hans Jürgen Hilling: Ich blicke auf die Veröffentlichung mit Spannung und auch einer gewissen Vorfreude. Ich bin überzeugt davon, dass die Studie der Gruppe um Professor Großbölting Qualitätsstandards setzen wird; an ihrer Unabhängigkeit habe ich keinen Zweifel.

Für viele Betroffene und auch für viele Nichtbetroffene in den Gemeinden und anderswo werden sich hoffentlich einige Antworten auf Fragen ergeben, die sie schon länger – teils lebenslang – begleitet haben. Aber: Viele Fragen werden auch offenbleiben, insbesondere was Missbrauch und Gewalt in vielen Ordenseinrichtungen im Bistum Münster angeht. Da muss noch viel passieren. Bitter ist, dass die NRW-Landesregierung sich bei der Forderung nach staatlicher Aufklärung in geradezu peinlicher Weise weggeduckt hat.

Sara Wiese: Ich sehe der Veröffentlichung auch mit persönlicher Sorge entgegen, da sicherlich mindestens Vertuscher benannt werden, die ich früher geschätzt habe. Da muss auch ich mich dann mit Fehleinschätzungen meinerseits auseinandersetzen.

Was bedeutet die Veröffentlichung der Studie für Sie?

Hans Jürgen Hilling: Die Publikation der Studie ist ein Erfolg für viele Betroffene, die seit Jahren eine ehrliche Aufklärung und Aufarbeitung der Missbrauchs- und Vertuschungsgeschichte des Bistums Münster und des Offizialats Vechta – wo man sich mit diesem Thema allem Anschein nach auch gegenwärtig noch besonders schwertut – gefordert haben. Bald wird etwas Substantielles auf dem Tisch liegen, hinter das niemand im Bistum mehr zurückkönnen wird.

Was erhoffen Sie sich von der Studie?

Thomas K.: Ich hoffe auf ein Aufwachen und darauf, dass die Studie unter anderem dazu beitragen wird, die sakrale Überhöhung des Klerikerstandes, welche den vielfachen Missbrauch begüns­tigt hat, ein weiteres Mal zu entlarven. Dazu tragen auch allein die Bilder bei, die sich in den liturgischen Choreographien – vor allem im Münsteraner Dom – bei feierlichen Anlässen bieten: männerbündische Kostümierungen in Rot und Pink; das ist für mich einfach aus unserer realen Zeit gefallen. Da sehe ich persönlich keine Verbindung mehr zu dem Mann aus Nazareth.

Hans Jürgen Hilling: Aufklärung, ehrliche Erkenntnisse über Vertuschungspraxis durch und unter den Bischöfen Lettmann, Tenhumberg, Twickel, Thissen und ihre Helfer, Erkenntnisse über das Mitwirken von kirchennahen Therapeuten, Ärzten und Juristen bei Vertuschung und Versetzung von Tätern und Beschuldigten, Mitwisserschaft in Gemeinden und schließlich: eine fundierte Grundlage für angemessene Schadenersatzleistungen.

Franz N.: Innerkirchliche Reförmchen – zum Beispiel einige wenige Verwaltungsposten mal mit Frauen zu besetzen – reichen nicht aus; es müssen innerkirchlich grundlegend radikale Veränderungen stattfinden. Auch Bewegungen wie „Kirche von unten“, „OutInChurch" oder „Maria 2.0“ fordern dies vehement. Wenn die katholische Kirche auch noch diese letzten Engagierten verliert, dann hat sie für mich als ein Ort des Suchens, des Glaubens, des Zweifelns und der Visionen für eine bessere Welt ausgedient.

Welche Erwartungen haben Sie an das Bistum Münster und Bischof Felix Genn, wenn die Studie veröffentlicht ist?

Hans Jürgen Hilling: Ich kann Ihnen sagen, was ich mir definitiv nicht wünsche: Große Betroffenheitsgesten, Entschuldigungslitaneien und ähnliche Phrasen. Ich kenne keinen Betroffenen, der Derartiges – gerade auch nach dem, was Benedikt XVI. in diesem Zusammenhang zum Besten gegeben hat – noch hören könnte.

Sara Wiese: Schon während und auch nach dem Betroffenentreffen im Februar hat sich gezeigt, dass die Entschädigungspraxis der Bistümer insgesamt und auch das Verfahren vor der Bonner Kommission, die die Bischofskonferenz eingerichtet hat, in vielen Fällen grob unbillig ist und bei vielen zu neuen Verletzungen führt.

Wir wissen zum Beispiel von Fällen in Heimen, in denen Kinder unter Drogeneinsatz von einem Priester vergewaltigt worden sind. Diese für ihr Leben gezeichneten Menschen werden dann mit Summen abgespeist, die lächerlich sind. Daher: Die Entschädigungspraxis muss geändert werden, und der Bischof von Münster und das Bistum dürfen sich nicht länger hinter der Beschlusslage der Bischofskonferenz verstecken.

Hans Jürgen Hilling: Professor Große Kracht aus der Historiker-Kommission hat bereits im letzten Jahr im Dezember 2020 bei der Vorstellung von Zwischen­ergebnissen vorgetragen, dass es wohl ein regelrechtes Vertuschernetzwerk um Bischof Lettmann gegeben habe. Die Rolle von Bischof Lettmann wird daher wohl grundlegend neu zu bewerten sein und das Andenken an ihn einer weitreichenden Revision unterzogen werden müssen. Da sollte Bischof Genn mutig vorangehen, Standards setzen und Ansätzen zur Relativierung der Verantwortung von Lettmann und anderen Bischöfen entschlossen entgegentreten.

Welche Rolle spielt es für Sie, dass die Münsteraner Studie keine von Juristen wie etwa in Köln und München ist, sondern eine historische?

Sara Wiese: Ich finde das sehr gut, da mein persönlicher Eindruck ist, dass eine historische Studie den sozialen, systemischen Kontext umfassender in den Blick nimmt als eine juristische Studie.

Hans Jürgen Hilling: Ich halte das für einen großen Vorteil. Ob ein bestimmtes Verhalten als eine „Pflichtverletzung“ im Rechtssinn zu beurteilen ist, ist oft zweifelhaft, doch im Kern sekundär. Im Kirchenrecht spielen Betroffene sexueller Gewalt ohnehin allenfalls eine zu vernachlässigende Rolle. Da macht es nun wirklich keinen Sinn, nach Verletzungen des Kirchenrechts zu suchen, wenn man die Dimension des tatsächlich Geschehenen begreifen möchte. Da ist es mir lieber, dass historisch – so gut es geht – aufgearbeitet und dargestellt wird, wer was wann getan oder unterlassen hat.

Dies eröffnet viel eher die Möglichkeit, Handlungen der Bischöfe und der Bistumsleitungen umfassender zu beurteilen und das Versagen angesichts des eigenen beziehungsweise behaupteten Selbstverständnisses sichtbar zu machen.

Sofern in den Juristengutachten versucht wurde, das Verhalten von Amtsträgern am kirchlichen Selbstverständnis zu messen, stellt sich natürlich die Frage, was gerade Juristen zu derartigen Untersuchungen befähigen sollte. Das sind Fragestellungen, die bei Zeithistorikern sicher besser aufgehoben sind.

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