Eine Abtreibung überlebt

Das „Oldenburger Baby“ sollte sterben – heute ist Tim 20

Als „Oldenburger Baby“ löste seine Geschichte große Diskussionen aus: Seine leibliche Mutter sah sich nicht in der Lage, ein schwerstbehindertes Kind zur Welt zu bringen und wollte es abtreiben. Doch der Junge überlebte. Jetzt feierte er seinen 20. Geburtstag.

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Es ist der 6. Juli 1997, ein Sonntag. In einer Klinik in Oldenburg liegt eine Frau in den Wehen. Kurz zuvor war bei ihrem ungeborenen Jungen das Down-Syndrom festgestellt worden. In ihrer Verzweiflung verlangte die 35-Jährige eine Spätabtreibung. Andernfalls, drohte sie, würde sie sich umbringen. Also leiteten die Ärzte künstlich eine Frühgeburt ein. Doch der Junge starb nicht. Tim, das „Oldenburger Baby“, überlebte seine eigene Abtreibung. Jetzt feierte er seinen 20. Geburtstag.

Es müssen furchtbare Stunden gewesen sein für Christine Müller (Name geändert), Tims Mutter. Ein Kind hatte sie bereits, ein weiteres war tot geboren worden. Jetzt die Diagnose Trisomie 21: Down-Syndrom. Christine Müller konnte nicht mehr. Damals wie heute entscheiden sich rund 90 Prozent der Eltern von Down-Kindern für eine Abtreibung – viele von ihnen schlicht aus Unwissenheit, was der Chromosomen-Defekt wirklich bedeutet.

 

Tim starb nicht - wider alle Erwartung

 

Müller war in der 25. Schwangerschaftswoche. Damit hatte ihr Junge die Grenze zur Lebensfähigkeit bereits überschritten. Die Ärzte gingen dennoch davon aus, dass er die Prozedur der Spätabtreibung nicht überleben würde: Die durch Medikamente ausgelösten Wehen, der Stress, die Geburt würden ihn umbringen. Wenn er nicht schon tot zur Welt kommen würde, würde der Junge nach kurzer Zeit ersticken, waren sich die Mediziner sicher.

Aber Tim kam nicht tot zur Welt. Er erstickte nicht. Mit aller Kraft, die in dem kleinen Körper von nicht einmal 700 Gramm Gewicht steckte, klammerte er sich ans Leben. Rund neun Stunden später beschlossen die Ärzte, das kleine, in Tücher gewickelte Wesen intensivmedizinisch zu versorgen, das entgegen aller Erwartungen einfach nicht aufhören wollte zu atmen. Viel kostbare Zeit war da bereits verstrichen. Zurück blieben Schädigungen, die weit über das hinausgehen, was bei Down-Kindern üblich ist: Wasserkopf, Hirnblutungen, Lungenschäden.

 

Schwerste Behinderungen

 

Tim mit 15 Jahren.
Tim mit 15 Jahren vor der St.-Marien-Kirche in Quakenbrück. | Foto: privat

Trotz schwerster Behinderungen überlebte Tim. Eine Vielzahl von Operationen musste er seitdem über sich ergehen lassen. Bis heute kann er kaum sprechen, entwickelte autistische Züge. Erst mit sechs Jahren lernte er zu laufen. Da er nicht schlucken will, wird er über eine Magensonde ernährt. Und doch fand er etwas, was seine leiblichen Eltern ihm nicht bieten konnten: ein liebevolles Zuhause. Simone und Bernhard Guido nahmen den Jungen 1998 als Pflegekind bei sich auf.

Der Alltag mit Tim ist nicht leicht. Durch seine schwere Behinderung wird er zeitlebens ein Pflegefall bleiben: Pflegegrad 5, die höchste Stufe, die das deutsche Recht seit diesem Jahr, seit Inkrafttreten des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes, kennt. Für die Guidos heißt das: Einsatz rund um die Uhr. Tim muss gewickelt werden, gewaschen, rasiert. „Ohne Hilfe könnte er nicht überleben“, sagt Simone Guido.

 

Kleine Momente des Glücks

 

Inmitten des täglichen, schweißtreibenden Einsatzes gibt es diese kleinen Momente der Hoffnung und des Glücks – etwa, als Tim während einer Delfintherapie plötzlich begann, das angebotene Essen zu schlucken. Ein Meilenstein – und doch nur eine kurze Phase. Oder beim Ausflug mit dem Fahrrad, wenn Tim im Anhänger sitzend den Fahrtwind bejubelt. Oder beim Spielen. „Er spielt selbstständig“, sagt Simone Guido mit etwas Stolz in der Stimme. Am liebsten mit seiner Frisbeescheibe, die er munter dreht und laut scheppernd zu Boden fallen lässt. Stundenlang kann er sich so beschäftigen.

Womit andere hoffnungslos überfordert wären, ist für Tims Pflegemutter „ganz normal“, sagt sie. Dabei ist der Einsatz für Tim nicht einmal alles, was sich die Guidos freiwillig und aus Überzeugung zumuten: Sie haben noch zwei weitere Pflegekinder bei sich aufgenommen. Melissa ist 17, Naomi 13 Jahre alt. Auch sie haben das Down-Syndrom. Melissa kann Fahrrad fahren und kleinere Einkäufe tätigen. „Sie könnte vielleicht alleine leben“, meint Simone Guido. „Naomi braucht mehr Aufmerksamkeit.“ Das mag am Alter liegen.

 

Urlaub wegen der Vollzeitpflege kaum nöglich

 

Wer so eingespannt ist, der muss auch mal ausspannen. Urlaub mit Tim aber ist kaum möglich. Zu intensiv ist die Pflege, die er braucht. Im Gespräch erzählt Simone Guido von einem bevorstehenden Frankreich-Aufenthalt: Camping – mit Tim undenkbar. Er könnte krank werden und medizinische Hilfe benötigen. Da soll er lieber zu Hause sein, in der Nähe der Ärzte, die ihn kennen. Kurzzeitpflege.

Nicht nur das kostet viel Geld. Um Tims Vollzeitpflege zu gewährleisten und seine Therapien zu finanzieren, sind die Guidos auf Unterstützung angewiesen. Vor allem die Kampagne „Tim-lebt.de“ sammelt seit Jahren Spenden für die Familie. Organisiert wird sie von der Stiftung „Ja zum Leben“, die für die Rechte ungeborener Kinder eintritt.

 

Pläne für die Zukunft

 

Vor zwei Jahren, zu Tims 18. Geburtstag, veröffentlichten Simone und Bernhard Guido gemeinsam mit Co-Autorin Kathrin Schadt ein Buch: „Tim lebt! Wie uns ein Junge, den es nicht geben sollte, die Augen geöffnet hat.“ Es sollte ein Geschenk für ihren Pflegesohn sein. Die Einnahmen aus dem Buchverkauf fließen in ein Projekt, das den Guidos sehr am Herzen liegt: In ihrem Einfamilienhaus im niedersächsischen Quakenbrück soll eine Wohngemeinschaft für die drei Down-Kinder entstehen.

Ein bis zwei festangestellte Mitarbeiter werden sich dann mit um Tim, Melissa und Naomi kümmern, die gemeinsam im ausgebauten Obergeschoss des Hauses leben sollen – in einer „autarken Wohnung“, wie es Simone Guido ausdrückt: mit eigener Küche, eigenem Bad, ein wenig auf sich gestellt. Die Selbstständigkeit der drei soll so gefördert werden. In einigen Jahren wird es soweit sein.

 

Keine Vorwürfe an die leiblichen Eltern

 

Vorwürfe machen Tims Pflegeeltern seinen leiblichen Eltern nicht. Sie befanden sich damals in einer psychischen Ausnahmesituation, waren womöglich nicht ausreichend da­rüber aufgeklärt worden, wie das Leben mit einem behinderten Kind zu meistern ist.

Während Tims leibliche Mutter mit ihm nichts zu tun haben wollte, entschied der Vater schließlich nach Rücksprache mit den Ärzten, dass Tim künstlich beatmet werden, dass er leben sollte. Er war es auch, der ihm seinen Namen gab. Die Medien schrieben später vom „Oldenburger Baby“. Der Vater, erzählen die Guidos, sei noch einige Male vorbeigekommen und habe sich nach Tim erkundigt. Dann brach er den Kontakt ab.

Simone und Bernhard Guido hatten sich als potenzielle Pflege­eltern registrieren lassen. Eines Tages führte sie ein Anruf vom Jugendamt ins Krankenhaus, auf die Intensivstation. Dort lag Tim und sah seine künftigen Pflegeeltern erwartungsvoll an. „Als wir damals an seinem Bettchen standen und er uns mit seinen blauen Augen anschaute, stand unsere Entscheidung eigentlich gleich fest“, sagen die beiden in ihrem Buch. „Wir nehmen ihn auf.“

 

„Er hat sich uns ausgesucht“

 

Rückblickend meinen sie: „Er hat sich uns ausgesucht.“ Eigentlich hatten sich die Guidos ein Mädchen als Pflegekind gewünscht. Und eines, das nicht behindert war. Doch es kam anders: Obwohl allen klar war, dass es nicht einfach werden würde, entschieden sie sich für den kleinen Tim. Seine tragische Geschichte kannten sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Die leiblichen Söhne Marco und Pablo bekamen einen Bruder. „Wir haben es nie bereut“, sagen die Guidos. Für ihr Engagement erhielten sie 2006 die Bundesverdienstmedaille.

Als Tims Fall öffentlich wurde, löste er eine breite Debatte aus. Dürfen ungeborene Kinder mit Behinderung getötet werden? Haben nicht auch sie ein Recht auf Leben? Geändert hat sich seither wenig. Spätabtreibungen sind noch immer Realität. Die Fallzahlen steigen sogar seit Jahren an. „Zeichnet sich eine Gesellschaft nicht dadurch aus, wie sie mit ihren schwächsten Mitgliedern umgeht?“, fragt Bernhard Guido.

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