Ulrich Lilie erklärt, warum nicht nur Alte einsam sind

Diakonie-Präsident: Menschen Mitte 30 haben hohes Einsamkeitsrisiko

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Die Corona-Krise hat vielen Menschen die Erfahrung des Isoliert-Seins aufgezwungen. Doch nicht jeder, der allein ist, ist auch einsam. Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie, hat sich als Mit-Autor des „Atlas der Einsamkeiten“ mit den hellen und dunkeln Seiten der Einsamkeit beschäftigt.

Herr Lilie, wie sind Sie als Präsident der Diakonie auf die Idee gekommen, ein Buch über Einsamkeit zu schreiben?

Einsamkeit ist ein Thema in einer individualisierten Gesellschaft. Durch die Corona-Krise hat sich Einsamkeit in der Gesellschaft noch verschärft. Darunter haben im vergangenen Jahr besonders alte Menschen in Heimen gelitten, die keinen Besuch mehr bekommen durften, und dadurch geistig und körperlich weiter abgebaut haben. Aber auch viele junge Menschen, etwa Studierende in den Anfangssemestern, die in eine neue Stadt gezogen sind, waren betroffen. Statt in Vorlesungen und Seminaren sitzen sie in der neuen coolen Stadt allein vor dem Laptop in Online-Seminaren, sie haben schlicht keine oder kaum andere junge Leute kennenlernen können. Und auch kleine Kinder verstehen nicht, warum sie ihre Freunde und Freundinnen im Kindergarten nicht mehr treffen dürfen. Einsamkeit hat also viele Facetten, die in der Pandemie noch mehr zutage getreten sind.

Also betrifft Einsamkeit nicht nur alte Menschen?

Nein, es sind eben nicht nur die Alten, die einsam sind. Es gibt Studien, dass sogar Hochbetagte oft noch wichtige Aufgaben in der Familie wahrnehmen und keineswegs isoliert leben. Mitunter sind es gerade die Menschen um die Mitte 30, die betroffen sind. In dieser Lebensphase erfinden sie sich gerade ein Stück weit neu, weil sie die Jugendlichen-Netzwerke verlassen, in andere Städte ziehen, beruflich neu anfangen. Das ist eine Phase, in der Menschen oft ein hohes Einsamkeitsrisiko haben.

Das Buch „Atlas der Einsamkeit“, das sie zusammen mit dem Kulturbeauftragten der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Johann Hinrich Claussen, geschrieben haben, hat den Unter-Titel „Für sich sein“. Was ist der Unterschied zwischen „Allein-Sein“ und Einsamkeit?

Einsamkeit ist nicht nur negativ, sie kann auch zur Reifung einer Persönlichkeit beitragen. Jeder von uns kennt aus der eigenen Biographie solche Phasen, wo man für sich und auf sich selbst zurückgeworfen ist – das können auch gute Erfahrungen sein. Alle großen Religionsstifter haben sich erst mal zurückgezogen, um ihrer Offenbarung zu begegnen. Der Unterschied zwischen Einsamkeit und „Für sich sein“ liegt im Maß an Freiwilligkeit. Wer Schweige-Exerzitien macht, zieht sich auf eine selbst gewollte und klar strukturierte Einsamkeit für einen überschaubaren Zeitraum zurück. Aber wenn das „Für sich sein“ echten Stress auslöst, ist eine Grenze überschritten. Das unfreiwillige und ungewollte Alleinsein macht dem sozialen Wesen Mensch Stress, das macht wirklich krank, mitunter schwerkrank.

In der modernen, mobilen Gesellschaft leben immer mehr Menschen alleine. Es gibt eine hohe Zahl von Single-Haushalten. Führt das auch zu mehr Einsamkeit?

Mehr Single-Haushalte bedeuten nicht unbedingt mehr Einsamkeit. Menschen, die alleine in einer Wohnung leben, können ansonsten wunderbar vernetzt sein. Sie sind vielleicht beruflich sehr aktiv, Mitglied in vielen Sportvereinen oder pflegen ihre Kontakte in der Nachbarschaft und ihren Freundeskreis. Oder sie haben einen Partner oder eine Partnerin, leben aber bewusst nicht in einer gemeinsamen Wohnung.

Inwieweit hängt Einsamkeit mit der Persönlichkeit zusammen? Es gibt Menschen, die scheinen Abgeschiedenheit auch über lange Zeiträume zu genießen.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, von der Evolution bedingt ein „Herdentier“ mit einer genetischen Disposition zur Sozialität. Normalerweise bedeutet für ihn das unfreiwillige Allein-Sein oder die Isolation biologischen Stress. Aber Einsamkeit wird individuell sehr unterschiedlich erlebt. Es gibt eben auch Menschen, die eine andere genetische Disposition haben und aufgrund ihrer Prägung damit eher gut zurechtkommen und es genießen, für sich zu sein.

Psychologen sagen, man kann auch unter vielen Menschen oder in der Ehe einsam sein. Wie entsteht ein Gefühl der Einsamkeit, wenn man eigentlich „nicht alleine“ ist?

Das Gefühl entsteht, wenn das Bedürfnis nach „Gesehenwerden“, nach Nähe und Geborgenheit auch in der Gemeinsamkeit nicht erfüllt wird. In Ehen kam das früher viel häufiger vor, weil Frauen oft einfach nur „funktionieren“ und ihre Aufgaben in der Familie erfüllen sollten – ohne je Anerkennung und persönliche Wertschätzung zu erfahren. Es gibt Studien, die zeigen, dass sich das heute erfreulicherweise durch die Emanzipation der Frau und ein grundlegend anderes Verständnis von Partnerschaft erheblich verändert hat. Aber selbstverständlich sind Partnerschaften oder Familien auch heute keine Idyllen – es gibt sehr viele einsame Kinder, ganz unabhängig vom sozialen Status.

Viele Menschen, die sich einsam fühlen, geben das nur ungern zu. Woran liegt das?

In unserer Gesellschaft ist der Grad der sozialen Einbindung, die Zahl der Freunde – oder inzwischen der Likes im Internet – auch mit dem Ranking auf einer sozialen Werteskala verbunden. Wer viele Follower in den sozialen Medien hat, der gilt vermeintlich als angesagt und dessen Meinung wird geteilt und kommentiert. Neben dem gut gefüllten Bankkonto geht es heute auch darum, mittendrin zu sein und dazuzugehören. Wer da nicht mitspielt, fällt raus und genügt den Normen der Gesellschaft nicht. Das ist mit sozialer Scham verbunden. Darum fällt es den Menschen oft sehr schwer, offen über ihre Einsamkeit zu reden, weil dieses Gefühl heute hoch tabuisiert wird.

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