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Eineinhalb Meter Durchmesser und 60 Kilogramm Gewicht: Seit knapp zwei Jahren restauriert Marita Schlüter das Kalendarium der Astronomischen Uhr aus dem St.-Paulus-Dom in Münster. Spätestens Ende des Jahres kommt die neue Kalenderscheibe dort wieder in Bewegung.
Farbe, Lösungsmittel und fast 500 Jahre Geschichte: Es ist ein intensives Gemisch, das beim Betreten der Werkstatt von Marita Schlüter in die Nase steigt. Die Diplom-Restauratorin aus der Umgebung von Münster sitzt vor einer beleuchteten Staffelei, blickt konzentriert durch ihre Stirnlupe und bewegt den Pinsel Millimeter für Millimeter über eine kleine runde Kupferplatte. Noch sind nur Reste einer Malerei zu erkennen, doch die 59-Jährige wird die Szene nach und nach vervollständigen. Die kleine Scheibe ist Teil eines großen Projekts. Seit knapp zwei Jahren haben Schlüter und ihre Kollegin Rakhil Verkhovskaya einen besonderen Patienten in ihrer Werkstatt: das Kalendarium der Astronomischen Uhr aus dem St.-Paulus-Dom in Münster.
Nicht zu übersehen lehnt die massive Kalenderscheibe aus Holz mit einem Durchmesser von eineinhalb Metern, 60 Kilogramm schwer, an der Wand. Viel Geduld und Leidenschaft haben die beiden Restauratorinnen nicht erst seit 2019 in den Publikumsmagneten der Kathedrale gesteckt. Schon seit 2015 arbeiten sie an der Astronomischen Uhr, restaurierten zunächst die eigentliche Uhr mit dem Ziffernblatt und die Galerie darüber und wurden pünktlich zum Katholikentag 2018 fertig. Ein Jahr später nahmen sie schließlich den unteren Teil in Pflege.
„Das Original so gut es geht bewahren“
Das Kalendarium mit den sechs konzentrischen Ringen fasziniert Marita Schlüter immer wieder aufs Neue: „Hier lässt sich so viel mehr ablesen als nur Tag, Monat und Jahr“, sagt die Restauratorin und zeigt auf die Tierkreiszeichen in der Mitte der Scheibe und die zwölf Monatsbilder, die das bäuerliche und bürgerliche Leben im 16. Jahrhundert in unseren Breiten im Münsterland von einst widerspiegeln. Da werden im Januar Waffeln am offenen Herdfeuer gebacken, im April die Gärten bestellt, im August die Getreidefelder abgeerntet und im November die Schweine geschlachtet.
Wie die gesamten Malereien auf der Uhr stammen auch diese vom münsterschen Künstler Ludger tom Ring. „Wir möchten das Original so gut es geht bewahren“, erklärt Marita Schlüter.
Die meiste Arbeit wird nicht zu sehen sein
Dafür hat sie viele Gespräche mit Experten am Dom und außerhalb geführt, darunter Kenner der Astronomie und der Kunsthistorik und Fachleute der Denkmalpflege. Dass der Zustand eines Gemäldes nach der Restaurierung nur eine Annäherung an das vom Künstler ursprünglich angestrebte Erscheinungsbild sein kann, ist ihr bewusst. „Kunstwerke tragen die Spuren der Zeit in sich, sie verändern sich.“
Ein Großteil ihrer Arbeit wird für Außenstehende später nicht zu sehen sein, weiß Schlüter. Vor allem die sogenannte Freilegung der Malereien kostet viel Zeit. „Wir entfernen Schichten, die bei früheren Maßnahmen entstanden sind, verfärbte Übermalungen und Retuschen oder den Firnis, also die transparente Schutzschicht, die sich mit der Zeit gelblich verfärbt“, erklärt die Expertin.
Seit 1540 mindestens vier Restauratoren am Werk
Ihr erfahrener Blick sagt ihr, dass seit Entstehung der Uhr im Jahr 1540 mindestens vier Restauratoren am Werk waren – vermutlich sogar noch weitere. „In der Regel wurden aber nur die Oberfläche aufgefrischt und immer neue Retuschen aufgetragen“, sagt sie.
Sie macht ihren Vorgängern keinen Vorwurf, bedeutet Restaurierung heute doch etwas anderes als früher. Erst seit 1977 gibt es in Deutschland eine akademische Ausbildung, an Bedeutung gewonnen hat vor allem die Dokumentation. „Ich sehe meine Aufgabe darin, das Kunstwerk bestmöglich für die kommenden Generationen zu erhalten und den Restaurierungsprozess nachvollziehbar zu machen“, beschreibt Schlüter und fügt schmunzelnd hinzu: „Denn ich hoffe natürlich, dass ich die nächsten restauratorischen Maßnahmen an der Uhr nicht mehr erleben werde.“
Ein Gewand wird heller, ein Gesicht ausdrucksvoller
In den vergangenen Monaten hat Marita Schlüter jede einzelne Monatsscheibe millimetergenau unter dem Mikroskop geprüft. Auch die beiden Skulpturen am Kalendarium wurden penibel unter zwanzigfacher Vergrößerung untersucht – der heilige Paulus in der Mitte, der mit einem langen Zeiger auf die aktuelle Jahreszahl zeigt, und ein Soldat am Rand der Scheibe, der einen Stock auf das Tagesdatum richtet.
Schicht für Schicht hat die Restauratorin von den Figuren abgetragen – und dabei Erstaunliches entdeckt: „Die ursprüngliche Gewandfarbe des Heiligen ist viel heller und detaillierter als angenommen“, erklärt sie. Auch der Soldat wird sich verändern, gibt sie einen Ausblick: „Sein Gesicht wird sehr viel ausdrucksvoller werden.“ Ersetzt im Dom derzeit noch ein Foto das Original, kommt die echte Kalenderscheibe spätestens Ende des Jahres wieder in Bewegung.
Bleibende Faszination
Die Restaurierung der Astronomischen Uhr ist für Marita Schlüter das bislang umfangreichste Projekt in ihrer 32-jährigen Selbstständigkeit – „und das lehrreichste und spannendste“, fügt sie hinzu. Die Begeisterung für die 18 Quadratmeter bemaltes Holz und die zehn Skulpturen lässt sich in ihrem Gesicht ablesen.
Hinzu komme der enorme wissenschaftliche Hintergrund. „Was haben die Schöpfer dieser Uhr vor 500 Jahren Großartiges geleistet“, zeigt sich die Restauratorin beeindruckt. Sie ist sicher, dass diese Faszination noch weit über die Fertigstellung ihres Projektes hinaus bestehen bleiben wird.
Die erste astronomische Uhr im münsterschen Dom wurde Anfang des 15. Jahrhunderts gebaut. Nach ihrer Zerstörung während der Wiedertäuferzeit wurde die jetzige Uhr von 1540 bis 1542 vom Buchdrucker und Mathematiker Dietrich Tzwyvel in Zusammenarbeit mit dem Franziskaner und Domprediger Johann von Aachen erstellt. Im Lauf der Zeit gab es mehrere Ergänzungen, Reparaturen und Restaurierungen. Mithilfe der Uhr wurden der Ostertermin und davon abhängige kirchliche Feiertage berechnet, für deren Bestimmung astronomische Daten bedeutsam waren. Trotz der gregorianischen Kalenderreform von 1582 ist dies mit einigen Zusatzberechnungen noch immer möglich. Im Lauf eines Jahres dreht sich die Kalenderscheibe um 360 Grad. Auf ihr sind 532 Jahre erfasst, sie läuft bis zum Jahr 2071.