Oberstufen-Schülerinnen und -Schüler in Ibbenbüren überrascht von Engagement und Positionen

„Kirche ist besser als ihr Ruf“: Reli-Kurs recherchiert in Gemeinden

  • Einen neuen Ansatz hat eine Religionslehrerin in Ibbenbüren mit ihrem Grundkurs ausprobiert.
  • Die Schülerinnen und Schüler treffen sich mit Pfarrer, Kaplan und Schulseelsorger der Stadt und recherchieren die Frage: „Ist die Kirche so schlecht wie ihr Ruf?“
  • Die Schüler finden: „Die Ortskirche engagiert sich sehr stark“- was fehlt ist ein Influencer.

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Die Gänge sind leer, es ist ungewöhnlich leise im städtischen Johannes-Kepler-Gymnasium Ibbenbüren. Wo sonst 1.250 Schüler und 90 Lehrer leben und arbeiten, laufen zu Zeiten von Wechselunterricht und Distanzlernen höchstens einzelne Teilnehmende der Oberstufenkurse zu ihren Klassenräumen, vorbei an Terrarien mit den Schulvogelspinnen, einer gut bestückten, gläsernen Schulbibliothek, bunten Collagen und Schülergemälden.

Die bis sechszügige Schule hat einen starken naturwissenschaftlichen Schwerpunkt, verfügt aber auch im sprachlich-künstlerisch-musischen Fachbereich und in den Gesellschaftswissenschaften über ein großes Angebot, das derzeit allerdings nur für die älteren Schüler vor Ort wahrgenommen wird.

 

„Ist die Kirche so schlecht wie ihr Ruf?“

 

„Es wirkt fast, als wären wir hier eine Geisterschule“, sagt Patricia Kemmer, ihre Augen lächeln über der Maske, während sie durch die offene Tür deutet. Im Raum der „Q 1 Religion“ sind ihre Schülerinnen und Schüler schon versammelt, Stuhlkreis mit Abstand, Maske und bei geöffneten Türen und Fenstern.

Mit ihrem Grundkurs hat die Lehrerin in der Corona-Pandemie ein Projekt unter besonderen Bedingungen gestemmt: „Ist die Kirche so schlecht wie ihr Ruf?“ - Zu dieser Frage recherchierten die 18 Schüler von 16 bis 19 Jahren über einige Wochen und arbeiteten positive wie negative Aspekte und offene Fragen heraus.

 

Trockenes Thema durch echte Begegnungen angehen

 

„Glauben ist ja sonst immer so ein Thema“, berichtet die langjährige Religionslehrerin, selbst Mutter von drei Kindern. Wie sprechen junge Menschen im Religionsunterricht darüber? „Mein Opener ist meist, wenn ich neu mit einer Klasse starte: ,Glaubt ihr?‘ Da gehen so zwei, drei zögernde Finger hoch.“ Daran schließen sich im Dialog weitere Fragen an: „Wo beginnt Glaube?“ - „Na, bei Gott?!“ - „Erstmal fängt er doch damit an, dass ich an mich glaube, oder?“, hakt die 42-jährige Lehrerin nach. Das bringe die jungen Menschen ins Nachdenken, und meist komme die Klasse darüber gut mit Patricia Kemmer ins Gespräch.

„In dem jetzigen Kurs konnten wir uns Zeit nehmen für Exkursionen “, sagt Patricia Kemmer. In diesem Schuljahr ist kein Abiturient dabei, und die Lehrerin kann daher die Ausgestaltung des Unterrichts etwas freier handhaben. „Ekklesiologie“ steht auf dem Lehrplan – ein trockenes Wort für ein lebendiges Thema: die Lehre von der Kirche.

 

Mit der eigenen Kirche ging es los

 

„Angefangen haben wir, indem jeder die Kirche in seinem Wohnort vorgestellt hat“, berichtet Katharina Stolpe, 17 Jahre alt. Hinter den Schülern sind die umfangreichen Ergebnisse ihrer Recherchen an die Wand gepinnt, nahezu jeder der zehn Kirchstandorte der 27.000 Mitglieder starken Stadtpfarrei Ibbenbüren und Brochterbeck ist in Bild und Text aufgelistet und beschrieben.

Katharina Stolpe kommt aus Laggenbeck und hat sich daher mit der Kirche St. Maria Magdalena, beschäftigt. Sie hat sich die Innenausstattung genau angesehen, Fakten über die Historie zusammengetragen und offene Fragen formuliert: „Unklar ist für mich geblieben, wie es mit dem geplanten Abriss des hinteren, neuen Kirchenanbaus weitergeht.“ Ein Fazit: „Da könnte noch deutlicher und häufiger kommuniziert werden.“

 

Nachtgebet am Freitagabend? - Eher nicht

 

Doch nicht nur mit den Kirchengebäuden haben sich die Schüler beschäftigt: „Wir haben unter anderem den Leitenden Pfarrer Stefan Dördelmann und den Schulseelsorger Christoph Moormann getroffen“, berichten die Schüler. Wieder formulierten sie vorab im Unterricht Fragen und Erwartungen an die Treffen in den Kirchen, die anschließend als Videobotschaften zusammengefasst wurden. Luca Niedenzu sieht das spirituelle Angebot eher nüchtern: „Nachtgebet am Freitagabend? Da würde von uns eher keiner hingehen. Aber zusammen Bowlen oder so, das schon.“

Ein Angebot, dass sich Kaplan Sebastian Frye, mit 32 Jahren altersmäßig am nächsten an den Jugendlichen, durchaus habe vorstellen können, aber: „Er hat uns auch berichtet, wie stark die Seelsorger in ihrer Arbeit mit den Menschen durch Corona gerade eingeschränkt sind, und dass sie auch darunter leiden“, berichten die Schüler.

 

Überraschung: Das steckt alles hinter „Kirche“

 

Eine Ansicht, die auch Christoph Moormann nur bestätigen kann. Der Schulseelsorger war von Patricia Kemmer gebeten worden, im Kurs seine Arbeit vorzustellen. „Der Kurs schaut von außen auf das ,System Kirche‘, ein System, mit dem viele Schüler keine Berührungspunkte haben“, so der Pastoralreferent, der für die neun weiterführenden Schulen im Stadtgebiet zuständig ist.

Für ihn steht noch ein anderer Gedanke hinter diesem Projekt: „Es begeistert mich schon, dass diese jungen Leute von sich aus Fragen gestellt haben“, beschreibt er im Gespräch mit „Kirche-und-Leben.de“. Das erste Treffen sei sehr offen und von neugieriger Atmosphäre geprägt gewesen. „Den Schülern war nicht bewusst, dass hinter den sieben großen Ferienlagern aus unserem Stadtgebiet auch die Kirche steckt.“

 

Tiktok, Insta, Youtube

 

Ein Punkt, den Schülern Altje Wolters in der Reflexionsrunde kritisiert: Sinnvoll wäre doch eine Internetseite, die übersichtlich über alle Ferienlager informieren würde: „Noch besser ist ein eigener Influencer mit einer eigenen Seite, der in den Medien unterwegs ist, die wir auch nutzen“, ergänzt Dana Schröder.

Das wären vor allem Social-Media-Plattformen wie Tiktok, Insta, Snapchat, Facebook und YouTube. Und die Zeitung? Auf Papier wird wohl mal gelesen, wenn Eltern einen Artikel empfehlen.

 

Offene Fragen: Frauen in der Kirche

 

Unter den wenigen Textkarten mit Kritikpunkten, die im Klassenraum hängen, steht neben „unübersichtliche Internetseite“ in klaren Lettern „Frauen als Priester?“ - „Wir haben uns gewundert, dass Frauen in der katholischen Kirche keine höheren Ämter übernehmen können“, sagt Altje Wolters. Die Argumentation, dass diese Tradition historisch gewachsen sei und Kirche als globale Weltkirche einheitliche Entscheidungen bräuchte, überzeugt die junge Frau nicht: „Jede Stadt hat jemanden, der sich um Gleichstellung von Männern und Frauen kümmert. Wir leben im 21. Jahrhundert.“ So bleibt die Frauenfrage vorerst in hellblau unter „Offene Fragen“ gepinnt.

Hat Kirche als Institution so überhaupt noch eine Relevanz? Es ist eher ein Angebot unter vielen, diskutieren die Schülerinnen und Schüler untereinander. Sie kann eine starke Stütze sein, über das jeder selbst entscheiden müsse, ob er es annehmen wolle.

Bei ihrem Projekt haben die jungen Menschen vor allem die vielfältigen Aufgaben der Seelsorger und der große Einsatz Ehrenamtlicher beeindruckt: „Wie Kaplan Frye mit unterschiedlichen Altersgruppen zu tun hat, das ist ein Job, der Respekt verdient“, findet Jule Ludwig. Auch Fryes Anregung, sich selbst zu fragen: „Wo möchte ich hin mit meinem Leben? Wie kann ich im Sinne von Jesus für andere da sein?“ haben sich die Schüler aufgeschrieben.

 

Stockende Botschaft und offene Ohren

 

Das überraschende Fazit der Jugendlichen nach Abschluss des Projektes: „Die Kirche ist besser als ihr Ruf“. Es gebe viele positive Aspekte ortskirchlicher Arbeit, die angesichts vieler Skandal-Schlagzeilen unterzugehen drohen, findet die 16-jährige Vanessa Witt: „Es gibt ein sehr negatives Bild von Kirche in den Medien zu kontroversen Themen, zum Beispiel die offizielle Haltung zur gleichgeschlechtlichen Ehe. Viele Leute haben dagegen kein genaues Bild, wie groß das ehrenamtliche Engagement in Kirchen vor Ort ist.“

Das sieht Mattis Radzautzki ähnlich: „Aufgefallen ist uns, dass man zwischen Weltkirche und Gemeinde unterscheiden muss. Die Menschen, die sich örtlich engagieren, stehen zwar hinter den grundsätzlichen Werten, sind aber in manchen Bereichen weltoffener und toleranter.“ Jule Ludwig ergänzt: „Viele sind nicht überhaupt nicth informiert über kirchliches Leben vor Ort. Wir sehen nur die negativen Nachrichten. Wenn sich jeder mal mit dem Angebot der Gemeinden auseinandersetzen würde, sähe das anders aus.“

 

"Seelsorger treffen ist besser, als sie zu googeln"

 

Auch die Exkursion zu den Seelsorgern stößt auf positives Echo: „Das ist für mich viel nachhaltiger, als wenn ich nur einen Text lese“, findet Altje Wolters. Und Vanessa Witt ergänzt: „Ich kann ,Seelsorger‘ zwar im Internet googeln, aber wenn ich dann einen treffe, so wie Kaplan Frye, dann ist das was ganz anderes“, findet sie.

Lehrerin Patricia Kemmer fasst zusammen: Es gebe viele starke kirchliche Strukturen im Umfeld der Jugendlichen, die sie auf ihrem Weg begleiten können und auch Werteorientierung geben. Die Herausforderung sei die Kommunikation: „Man sagt nicht zu jedem ,Hallo, ich bin Messdiener‘, wir sind eine tolle Gemeinschaft, die auch auffangen kann, in solchen Zeiten wie Corona.“ Sie glaubt, dass Kirche sich mehr Formate suchen muss, um Jugendliche noch besser zu erreichen. Die gute Botschaft stocke auf dem Weg zum Empfänger, so die Lehrerin: „Offene Ohren sind auf jeden Fall da.“

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