Eine Serie von Pfarrer Stefan Jürgens

Die kleine Gebetsschule (18): Mit allen Sinnen und vielen Gebärden

Wegen der Corona-Krise gibt es derzeit keine öffentlichen Gottesdienste. Pfarrer Stefan Jürgens aus Ahaus lädt deshalb zu einer kleinen Gebetsschule für zu Hause ein. Jeden Morgen ab 7.30 Uhr. Heute mit Teil 18.

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Wegen der Corona-Krise gibt es derzeit keine öffentlichen Gottesdienste. Pfarrer Stefan Jürgens aus Ahaus lädt deshalb zu einer kleinen Gebetsschule für zu Hause ein. Die Impulse bauen aufeinander auf. „Das persönliche Gebet ist mir ein Herzensanliegen“, sagt Jürgens. Viele hätten jetzt Zeit dafür. Jeden Morgen ab 7.30 Uhr gibt es an dieser Stelle eine neue Folge seiner "kleinen Gebetsschule".

Als Mensch habe ich nicht nur einen Leib, ich bin Leib. Zwischen Seele, Geist und Leib kann ich nicht unterscheiden, denn Gott hat mich als Mensch gewollt und erschaffen, nicht als zusammengesetztes Ding. Wenn ich ernst nehme, dass ich Leib bin, dann ist Beten nicht bloß eine seelisch-geistige, sondern auch eine leibliche Angelegenheit.

Ich kann mich dabei an Jesus Christus orientieren: In Ihm ist Gottes Sohn Mensch geworden aus Fleisch und Blut, mit Hand und Fuß, mit Haut und Haar. Er kam nicht als Idee, nicht als Programm, nicht als Buch – sondern als Mensch (vgl. Johannes 1,14). Gerade in Seiner einmaligen Beziehung zu Seinem Vater hat Er sich in die religiöse Überlieferung des jüdischen Volkes hineingestellt, hat Glauben und Beten gelernt wie jeder andere Jude auch. Er hat die Riten gekannt, die Rituale heiliggehalten; das Abendmahl, die Eucharistie als Sein großes Vermächtnis steht ganz in der Tradition des Paschamahles. Er hat sich immer wieder zurückgezogen an einsame Orte und beim Beten auch seinen Leib sprechen lassen: „Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast“ (Johannes 11,41).

 

„Verherrlicht Gott in eurem Leib!“

 

Pfarrer Stefan Jürgens (51) ist Pfarrer in Ahaus. Bekannt geworden ist er auch als Buch-Autor, vor allem durch sein jüngstes Buch "Ausgeheuchelt". | Foto: Christof HaverkampPfarrer Stefan Jürgens (51) ist Pfarrer in Ahaus. Bekannt geworden ist er auch als Buch-Autor, vor allem durch sein jüngstes Buch "Ausgeheuchelt". | Foto: Christof Haverkamp

In der späteren Reflexion über Jesus als den Erlöser und Heiland, der sich selbst für das Leben der Menschen hingibt, wird ausdrücklich auf seinen Leib hingewiesen: „Darum spricht Christus bei seinem Eintritt in die Welt … einen Leib hast du mir geschaffen“ (Hebräer 10,5). Der menschliche Leib hat eine ganz besondere Würde: „Verherrlicht also Gott in eurem Leib!“ (1 Korinther 6,20). Der Leib ist schließlich auch ein Bild für die Kirche, für die Verbundenheit der einzelnen Glieder untereinander und mit Christus (vgl. Römer 12,1-8; 1 Korinther 12,12-31a).

Beten mit vollen Sinnen bedeutet sinnvoll beten: Hören auf Gottes und der Menschen Wort, die Welt wahrnehmen, wie sie ist – sehend, schmeckend, riechend, tastend –, sind Voraussetzungen zum Meditieren, Betrachten, Danken und Fürbitten, oft genug auch zum Klagen über das, was Menschen einander und der Schöpfung antun. Die Welt sehen, im Licht des Evangeliums urteilen und danach handeln geht nicht ohne wache und offene Sinne. Dabei bleibt der Hörsinn für den Glauben stets zentral: „Der Glaube kommt vom Hören“ (vgl. Römer 10,18).

 

Glauben bedeutet empfangen

 

Thomas von Aquin formuliert in seinem Fronleichnamshymnus „Adoro te devote“: „Visus, tactus, gestus in te fallitur, sed auditu solo toto creditur“ – „Sehen, Schmecken, Tasten täuschen sich in dir, aber durch das Hören kommt der Glaube mir“; ohne Hören kann ich nicht glauben, denn Glauben bedeutet zuerst empfangen. Dennoch sollen auch die anderen Sinne angesprochen werden wie in der Liturgie: Gottes Dienst an uns wird begreifbar in Symbolen und Zeichen.

Bilder, Kerzen, Taufwasser und Weihrauch können auch meine persönlichen Gebetszeiten bereichern. Eine Kerze schafft immer Atmosphäre, spendet natürliches Licht und Wärme. Wenn sie für jemanden brennt, ist sie ein Zeichen der Solidarität und Sympathie, des Gedenkens und der Fürbitte. Sie ist selbst Symbol für Christus und für ein christliches Leben, für das Licht der Liebe Gottes und die Hingabe Jesu: Wenn die Kerze brennt, verzehrt sie sich dabei selbst, um ihr Licht und ihre Wärme für andere geben zu können.

 

Vor Gott wie ein Baum

 

Beten mit Gebärden bedeutet, den Leib sprechen lassen. Gebetsgebärden sind heilsam, weil sie mir zeigen, dass ich als ganzer Mensch vor Gott stehen darf und Er sich „ganzheitlich“ für mich interessiert.

Stehen bedeutet Sich-Aufrichten, ein aufrechter und aufrichtiger, aufmerksamer Mensch zu sein; es ist die Urgebärde des menschlichen Betens und die normale Haltung der Beter in der Bibel und im Christentum. Erlöste stehen vor Gott wie ein Baum: fest verwurzelt, ausgerichtet nach oben und zur Seite, Gott und Welt verbindend; sie stehen vor Gott zu sich selbst und zueinander.

 

Die Hände

 

Die Hände sind der geistigste Teil des menschlichen Leibes, wir können mit ihnen am besten unser Inneres zum Ausdruck bringen. Sie zeigen Offenheit, Zärtlichkeit, Gefühl und Schutz, aber auch Gewalt und Zerstörung. Die Hände zu erheben steht in der Bibel gleichbedeutend für Beten (vgl. Genesis 14,22). Das Ausstrecken der Hände bedeutet Segen und Schutz (vgl. Genesis 48,14; Exodus 9,22), Ergebung in den Willen Gottes (vgl. Johannes 21,18) und Mitteilung des Heiligen Geistes (vgl. Apostelgeschichte 6,6); es bedeutet Heilung (vgl. Matthäus 8,3.15; 9,18.25).

Wenn ich meine Hände ausbreite und erhebe, empfinde ich meinen ganzen Leib wie eine Schale, die zum Empfangen da ist. Führe ich meine Hände seitwärts weiter nach oben bis zur Schulterhöhe, so bin ich in der frühkirchlichen Orantehaltung, die immer wieder zu Gottes Lob und Preis eingenommen wird. Meine Arme werden dabei nicht müde, weil sie von innen her gestützt sind.

 

Hingabe, Empfangen, Bereitschaft

 

In der Kreuzgebärde lege ich die Hände vorn auf meine Schultern, über Kreuz, und mache mir bewusst, dass ich mein Kreuz trage und auf vieles festgelegt bin, das ich nicht ändern kann. Die über der Brust gekreuzten Hände drücken Hingabe aus; in der orthodoxen Kirche geht man so zur Kommunion, bei der Profess der Ordensleute geht es darum, sich Gott ganz zu überlassen.

Die Hände nach vorn zu öffnen ist eine Haltung des Empfangens – beim Vaterunser sollte die ganze Gemeinde so dastehen. Händefalten mit aneinander gelegten Handflächen ist die Haltung eines Vasallen gegenüber seinem Lehnsherrn: Jemand stellt sich ganz zur Verfügung. Das Händefalten mit ineinander verschlungenen Fingern ist eine späte Entwicklung, die aber zur gewöhnlichen Gebetsgebärde geworden ist; sie bedeutet Ergebung in den Willen Gottes.

Die Hände vor das Gesicht zu halten ist eine Form, mit sich und Gott allein zu sein; sie bedeutet Versenkung ins eigene Herz. Handauflegen heißt Segnen und Heilen – es sollte viel mehr praktiziert werden als nur bei Weihe und Ordination von kirchlichen Amtsträgern. Das Schlagen an die Brust ist ein Zeichen der Umkehr, das Kreuzzeichen ist Bekenntnis und Kurzformel des Glaubens in einem.

 

Nur wer Rückgrat hat, kann sich bücken

 

Ich kann mich verbeugen vor Gott, ohne mich verbiegen zu müssen: Nur wer ein Rückgrat hat, der kann sich auch bücken. Ich kann vor Ihm in die Knie gehen – aber nur vor Ihm, vor keinem anderen! Besondere Demut, Hingabe und Unterwerfung kann ich zum Ausdruck bringen, indem ich mich ganz auf den Boden lege.

Die so genannte Prostratio ist in fast allen Religionen üblich, sie wird auch von Abraham (vgl. Gen 17,3; 24,26) und von Jesus (vgl. Matthäus 26,39) berichtet; sie kommt in der katholischen Kirche bei den Weihen und am Karfreitag zu Beginn der Liturgie vor. Dieses Sich-ganz-Ausstrecken ist in sich eine so tiefe Gebetserfahrung, dass sie keiner weiteren Worte und Erklärungen bedarf.

 

Thronen, horchen, lauschen

 

Das Sitzen soll kein gelangweiltes und abwartendes Herumsitzen sein, sondern eine konzentrierte und bewusste Haltung. Die Bibel erzählt vom Sitzen als Zeichen friedlichen Miteinanders (vgl. Micha 4,4), vom Festsitzen in der Trauer (vgl. 1 Könige 19,4; Ijob 2,8), aber auch vom Thronen Gottes (vgl. 1 Samuel 4,4; 1 Könige 1,13) und vom Herrschen mit Christus (vgl. Matthäus 19,28). Sitzen ist Thronen, Horchen (Lauschen) und Meditieren; es wird selbst zum Gebet, wenn man es mit bestimmten Meditationsformen (Jesusgebet, Schriftbetrachtung) verbindet oder sich einfach schweigend von Gott anschauen, in das wortlose Geheimnis Seiner Gegenwart hineinnehmen lässt.

Das Schreiten ist ebenfalls eine Gebetsgebärde. Es ist ein sehr bewusstes, gleichmäßiges Gehen durch den (Kirchen-)Raum. Ich stelle mir vor, mit jedem Schritt meines Lebens ein Stück näher auf Gott zuzugehen. Die Prozession ist ein sehr feierliches Schreiten in Gemeinschaft. Ich gehe – schreite – aber auch sehr gerne allein durch eine große Kirche oder gehe singend umher.

 

Gebärden ohne Grenzen

 

Andere Gebetsgebärden sind – außer in Corona-Zeiten – das Händereichen beim Friedensgruß oder im Kreis um den Altar, der Kuss des Altares und des Evangelienbuches, einer Ikone oder eines Kreuzes. Der Entdeckung neuer Gebärden sind keine Grenzen gesetzt; selbst das Zu-Bett-Gehen am Abend kann Gebetsgebärde sein, wenn man sich jener letzten Geborgenheit und Ruhe anvertrauen mag, die nur Gott schenken kann. „In Frieden leg’ ich mich nieder und schlafe ein; denn du allein, Herr, lässt mich sorglos ruhen“ (Psalm 4,9).

Bis morgen!
Stefan Jürgens

Pfarrer Stefan Jürgens spricht in der Woche vom 30. März bis 4. April in Kirche in WDR 3 (7.50 Uhr) und WDR 5 (6.55 Uhr).
Herzliche Einladung zur Übertragung unserer täglichen Gottesdienste:
8.00 Uhr - Eucharistiefeier aus dem Paulusdom in Münster
17.30 Uhr - Abendgebet (Vesper) aus der Abtei Gerleve
18.00 Uhr - Eucharistiefeier aus der Lambertikirche in Münster
20.15 Uhr - Nachtgebet (Komplet) aus der Abtei Gerleve.

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