Im Kreis Warendorf versucht die Kooperation „Quadro“ zu reagieren

Die Suchthilfe auf dem Land kämpft mit besonderen Problemen

Das Leben in ländlichen Gebieten fördert Suchterkrankungen anders als das Leben in Großstädten. Hilfsangebote gibt es zudem weniger. Und kaum Spezialisierungen wie in städtischen Strukturen.

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Sie erzählt einen Witz und muss selbst darüber schmunzeln: „Trinkt jemand in der Kneipe in der Stadt drei Bier, ist er Alkoholiker – auf dem Land ist er der Fahrer.“ So lustig dieser Vergleich ist, Birgit Flatter kennt die bittere Wahrheit dahinter. Die Sozialarbeiterin und -therapeutin der Sucht- und Drogenberatung des katholischen Vereins für soziale Dienste (SKM) in Warendorf, berichtet sie von spezifischen Problemen auf dem Land. „Quadro“, eine Kooperation von Beratungsstellen im Kreis Warendorf, versucht darauf zu reagieren.

„Der Witz zeigt, welche Rolle gerade das Suchtmittel Alkohol bei den Menschen auf dem Land spielt.“ Das positive Bild seines Konsums ist in vielen Traditionen verankert. Zum gelungenen Schützenfest oder Scheunenball gehören immer noch viel Bier und Schnaps. Wer suchtgefährdet ist, findet darin einen Nährboden.

 

Anlässe gibt es genug

 

Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Alkoholsucht in ländlichen Gebieten ein eigenes Profil hat: die Kommunikation darüber. Während in der Stadt oft anonym konsumiert wird, geschieht das im Ländlichen häufig offener und akzeptierter. „Dadurch gehört der Alkoholiker einfach dazu, man belächelt ihn, redet über ihn“, sagt Flatter. „Nicht aber mit ihm.“ Weil seine Existenz im Dörflichen so normal ist, fehlt der Anlass dazu.

Das ist eine Situation, die Marta Lindner (Name von der Redaktion geändert) nur zu gut kennt. Die 50-Jährige erlebt jetzt noch, wenn sie als trockene Alkoholkranke mit Freunden am Tisch sitzt, dass über die „Alkis“ gelästert wird. Wenngleich alle von ihrer Suchtgeschichte wissen, sie akzeptieren und unterstützen. „Das Gerede bleibt.“

 

Trinken verlieh Leichtigkeit

 

Marta Lindner wuchs in einem Ort in der Nähe von Warendorf auf. Ihren ersten Kontakt mit dem Alkohol hatte sie als Jugendliche. „Es war ein schönes Gefühl, mit Leichtigkeit verbunden.“ Anlässe für den Griff zu Flasche gab es genug: Landjugendfeten, Scheunenpartys oder auch Sammelaktionen für gute Zwecke. Die Jugendlichen in ihrem Dorf fanden immer einen Grund für die Kiste Bier.

Kontakt
„Quadro“ ist eine Kooperation von Beratungsstellen im Kreis Warendorf. Kontakt über www.qua-dro.de.

Ihr Weg führte sie nach dem Abitur raus aus dem Münsterland. Sie machte eine Ausbildung in der Gastronomie und arbeitete sich bis zu leitenden Funktionen in großen Betrieben hoch. „Gerade in diesem Beruf ist der Alkohol immer präsent.“ Feiern waren zu organisieren, Catering im Privaten, das festliche Essen im Restaurant. Ständiger Begleiter: Alkohol in allen Formen, auch bei ihr.

 

Abrutsch in Raten

 

Sie rutschte immer weiter in die Suchterkrankung. Als sie mit 25 Jahren ins Münsterland zurückkehrte, in kleineren Betrieben arbeitete und eine Familie gründete, brauchte sie bereits Alkohol, um den Tag meistern zu können. Nachts trank sie heimlich, um schlafen zu können. Was sie selbst verdrängte: Viele um sie herum wussten von ihrer Situation, aber keiner sprach mit ihr. Jetzt war sie die Trinkerin, die irgendwie dazu gehörte.

Marta Lindner nennt das im Rückblick ihre „Zeit der kontrollierten Tiefen“. Sie war eine „Macherin, die funktionieren wollte“. Mit der Hoffnung, dass „ich trotzdem irgendwie durchkomme“. Die Familie war satt, die Kinder gut in der Schule, das Haus sauber – die Fassade hielt. Sie bröckelte erst, als ihr zum zweiten Mal der Führerschein entzogen wurde, weil sie alkoholisiert Auto gefahren war. „Beim ersten Mal 1,9 Promille, beim zweiten Mal 1,7.“

 

Eine Katastrophe half

 

Das war die Katastrophe, die sie gebraucht hatte, um zu handeln. „Ich ging zum kalten Entzug in eine Klinik weit weg von meinem Heimatort.“ Bloß nicht in der Nähe, bloß nicht weiteren Stoff für das Gerede geben. Sie kam trocken zurück in ihren Heimatort. Die lange, begleitende Therapie, die folgte, hätte ohne die Angebote von „quadro“ zum Problem werden können.

Hintergründe
Ein ausführliches Interview zum Thema mit dem Leiter der Sucht- und Drogenberatung des katholischen Verbands für soziale Dienste (SKM) in Warendorf, Thorsten Rahner, finden Sie in der aktuellen Ausgabe der Bistumszeitung Kirche+Leben, die Sie hier bestellen können.

„Quadro war die einzige Chance“, sagt Marta Lindner. „Für andere Angebote hätte ich ohne Führerschein zeitaufwendig nach Münster fahren müssen. Eine stationäre Therapie kam für sie nicht in Frage. Sie wollte sich weiter um ihre Familie kümmern. Heute fährt sie mit dem Fahrrad zur Beratungsstelle im Schatten der Laurentius-Kirche in Warendorf. Ihr Hausarzt sei ihr „zweiter Glücksfall“: „Er checkt mich nicht nur medizinisch, sondern hat mit seiner psychotherapeutischen Ausbildung auch vieles darüber hinaus im Blick.“

 

Angebot sind schwer erreichbar

 

Was bei Marta Lindner gelingt, ist auf dem Land nicht selbstverständlich. Gerade die Erreichbarkeit der Angebote in der Suchthilfe ist ein Problem, weiß Birgit Flatter. „Der fehlende Führerschein ist nicht selten, die Entfernungen zu den Beratungsstellen und Ärzten groß.“ Auch das Netzwerk unterstützender Mediziner ist auf dem Land längst nicht so dicht wie in der Stadt.

Dort ist auch das Angebot für die vielen unterschiedlichen Formen der Suchterkrankungen differenzierter. Andere Rauschmittel brauchen eine andere Form der Behandlung und Begleitung. „Der Cannabis-Süchtige fragt sich schnell, was er in der Gruppentherapie der Alkis zu suchen hat.“ Auch Spiel- oder Internet-Sucht benötigen spezielle Angebote.

 

Bis zu 1.000 Klienten im Jahr

 

„Quadro“ reagiert auf diese Probleme im Ländlichen. Die Beratungsstellen der karitativen Verbände in Ahlen, Beckum, Oelde und Warendorf kooperieren darin. Mit dem Ziel, Angebote zu spezialisieren, Präventionsmaßnahmen abzustimmen, Kontaktaufnahmen mit den Betroffenen zu erleichtern. Bis zu 1.000 Klienten im Jahr zeigen, wie notwendig das ist.

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