„Das Christentum ist nicht postfaktisch“

Dokumentiert: Die Predigt von Bischof Felix Genn zum Jahresschluss 2016

Bischof Felix Genn hat in seiner Silvesterpredigt 2016 in Münsters Lamberti-Kirche dazu ermutigt, sich nicht von Angst vor Gewalt, Terror und Fremden lähmen zu lassen. „Kirche+Leben“ dokumentiert die Ansprache.

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Bischof Felix Genn hat in seiner Silvesterpredigt 2016 in Münsters Lamberti-Kirche dazu ermutigt, sich nicht von Angst vor Gewalt, Terror und Fremden lähmen zu lassen. „Kirche+Leben“ dokumentiert die Ansprache.

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

alle Jahre hören wir in der Weihnachtszeit diesen wunderbaren Text aus dem Anfang des Johannes-Evangeliums. Auch heute, am Ende des bürgerlichen Jahres, werden wir auf den Anfang verwiesen, den Anfang von allem, was ist, was geschaffen worden ist, auch an den Anfang unseres Lebens und unseres Christ-seins. Aus diesem Anfang, den Gott gesetzt hat, und der in der Menschwerdung Seines Wortes, Seines Sohnes Jesus Christus, eine neue Dimension bekommen hat, leben wir.

Wir Christen glauben und bekennen, dass Er die Mitte des Ganzen ist, die Mitte von allem, dass in Ihm nicht nur alles erschaffen wurde, sondern dass in Ihm das Böse besiegt ist, wir also aus der Kraft Seines Anfangs in die Lage versetzt worden sind, nicht dem Raum zu geben, was zum Tode führt, sondern uns den Lebenskräften auszusetzen, die aus Seinem Erbarmen und aus Seiner Liebe kommen.

 

„Ein Jahr voller Wirrungen und Irrungen“

 

Liebe Schwestern und Brüder, das alles gilt auch für das Ende des Jahres 2016 und den Beginn des neuen Jahres 2017. Welch ein Jahr geht zu Ende, ein Jahr voller Wirrungen und Irrungen, so hat mir jemand in seinem Weihnachtsbrief geschrieben, und andere betonten, dass wir in einer Zeit leben, in der unsere Welt zunehmend aus den Fugen zu geraten scheint. Auch hier erinnere ich an die Gräueltat von Berlin. Vielleicht können Sie weitere Zeugnisse dieser Art dem hinzufügen. Ja, welch ein Jahr geht zu Ende!

Das Wort des Psalmisten, das uns helfen könnte, im Rückblick auf die letzten Monate zu sagen: „Du krönst das Jahr mit deiner Güte, deinen Spuren folgt Überfluss“ (Ps 65, 12) kommt uns wohl schwer über die Lippen, selbst, wenn wir im Blick auf unser eigenes Leben für vieles zu danken haben.

 

Wo war Gott in all dem Elend?

 

Können wir angesichts des unsäglichen Elends, das wir in unserer Welt erleben, davon sprechen, dass Gott mit Seiner Güte und mit Seinem Überfluss an Gnade und Erbarmen präsent war? Rücken nicht die Bilder zerstörter Städte, der Schlacht um Aleppo, die verhärteten Gesichter von Präsidenten in Russland und Syrien, die zur Machtsicherung auch die Zivilbevölkerung nicht schonen, Bilder von Terror und Gewalt und vieles mehr, stärker in den Vordergrund als das Bild von der Krönung eines Jahres mit Güte?

Und: Die Angst geht doch um, nicht so sehr die Angst, dass auch der Krieg bei uns ausbricht, wohl aber die Angst vor Terror und Gewalt in unserem Land und in unseren Straßen. Die Angst treibt Menschen in Misstrauen gegenüber Fremden, die in unser Land gekommen sind, eine Angst, gepaart mit Sorge, dass das von uns mühsam Angesparte und Erworbene zerstört werden könnte, dass viel zu viel Rücksicht genommen wird auf solche, die zunächst einmal zum Bruttosozialprodukt nichts beigetragen haben, aber davon zehren dürfen.

 

Gegen eine Politik mit der Angst

 

Mit dieser Sorge kann man Politik treiben, liebe Schwestern und Brüder, und sie wird das Wahljahr 2017 bestimmen. Trotz des großen Engagements unzähliger Frauen und Männer, die in unseren Gemeinden als Ehrenamtliche sich auf vielfältige Weise um die Integration von Flüchtlingen und Asylsuchenden kümmern, gibt es ebenso starke Tendenzen – auch in unseren Gemeinden –, geprägt von der Angst vor Überfremdung, vor allem durch den Islam. Manche sehen schon in der Stadt Münster eine Zukunft, in der die Lamberti-Kirche zur Moschee umgewandelt ist.

Der Wahlkampf in Amerika hat uns exemplarisch gezeigt, wie in einer komplexen Welt einfache Parolen mehr Gewinn einstreichen als die notwendige geistige Auseinandersetzung. Eine wirkliche Auseinandersetzung begnügt sich nicht damit, die andere Seite immer zu diskreditieren, zu verteufeln, als unfähig darzustellen. Ohne die Mühe der Differenzierung und ohne die Anstrengung des Begriffs können, liebe Schwestern und Brüder, die massiven Probleme unserer Welt nicht gelöst werden. Bloße Gefühle reichen nicht aus. Der Ruf allein nach Werten, zu denen die Kirche auch ein Wort zu sagen hat, greift meines Erachtens zu kurz, wenn sie nicht mit Verstand und Herz begründet werden können.

 

Abschottung führt nicht weiter

 

Denn nur das ist menschenwürdig, was zugleich vernünftig und vom Herzen her anzunehmen ist. Und nur so gelingt uns die Auseinandersetzung mit allen fremden Kulturen, mit anderen Religionen und geistigen Strömungen. Sich dagegen abzuschotten, führt nicht weiter, weil in einer offenen Gesellschaft, in der die Freiheit für jeden Einzelnen als hohes Gut zu leben ist, und in einer globalisierten Welt die Vermischung von Kulturen und Religionen nicht aufzuhalten ist.

Ich möchte dazu ein Beispiel nennen. Oft werden die Begriffe Asyl, Einwanderung und subsidiärer Schutz als Äquivalent benutzt. Wie wichtig wäre jedoch eine Unterscheidung! So werden viele Menschen, die vor Mord und Totschlag flüchten, leicht diffamiert nach all dem, was sie schon erlebt haben.

 

Vernunft statt Gefühlsduselei

 

Liebe Schwestern und Brüder, in diese Situation stellt sich das Wort vom Anfang, das uns heute im Evangelium begegnet, als die beste Lösung dar, weil dieser Anfang im Wort gesehen wird, und das bedeutet in einer vernünftigen Gestalt, dem Geist gemäßen Struktur. Das Christentum hat sich von Anfang an als Religion des Logos, des Wortes, der Vernunft verstanden.

Am Anfang war nicht das Chaos, keine Gefühlsduselei, kein Gemisch von Phantasie, willkürlichen Affekten, sondern das Wort, freilich ein Wort, das aus Gnade und Wahrheit besteht, ein Wort, das der Tiefe der Liebe Gottes entstammt. Und nur hier finden wir den Grund für Werte, für die geistigen Zusammenhänge, die dem Leben dienen und es nicht zerstören.

 

„Christen waren immer Friedensstifter“

 

Dieses Wort hat sich als so mächtig erwiesen, dass es in seiner Liebe fähig war, sich uns zuzugesellen, nicht nur indem es sich für die Ohren vernehmbar machte, sondern ansichtig wurde, eben Fleisch, wie der Johannes-Prolog ausdrücklich sagt. Im Angesicht Jesu wird dieses Wort vom Anfang ansichtig, zeigt sich, dass Gott allem, was Er geschaffen hat, die Krone Seiner Güte aufsetzt, dass der, der Seinen Spuren folgt, erfahren darf, welch Überfluss von Erbarmen ihm zufließt.

Das haben Christinnen und Christen durch die Jahrhunderte gespürt und gemerkt, von daher ihre Zeit gestaltet, ihr Leben geprägt. Deshalb konnten sie in der Gesellschaft, in der sie lebten, die Auseinandersetzung mit anderen Denkströmungen ebenso wagen wie das Engagement für Frieden und Gerechtigkeit, die Sorge um die Armen und Hilfslosen, die Schwachen und Kranken. Deshalb waren Christen immer Friedensstifter.

Dies lässt sich in Kürze zusammenfassend so formulieren: Das Christentum, die Liebe und die Welt sind nicht postfaktisch. Wir leben aus Taten der Liebe, aus Hingabe, aus dem Faktum, dass Gott uns und die Welt gewollt hat, ja, noch immer will. Postfaktisch ist das Chaos und die Willkür, die Liebe ist Tat, sie ist das Faktum überhaupt.

 

Friedenstreffen 2017 in Münster und Osnabrück

 

Liebe Schwestern und Brüder, wir leben hier in der Stadt des Westfälischen Friedens. Hier und in Osnabrück wurde nach einem unsäglichen Krieg von 30 Jahren und mühseligen Verhandlungen Friede geschlossen. Das Ereignis der Reformation, das unsere evangelischen Schwestern und Brüder im nächsten Jahr in besonderer Weise bedenken, hat nicht nur das Bemühen um eine innere Erneuerung aus dem Geist des Evangeliums geprägt, sondern auch zu einer tiefen Spaltung und Zerrissenheit der Christenheit beigetragen.

Deshalb gehört zu diesem Reformationsgedenken auch die Erinnerung an diese dunklen Seiten ebenso wie an das, was sich im Westfälischen Frieden ereignet hat. Ich bin deshalb sehr dankbar, dass im neuen Jahr 2017 vom 10. bis 12. September das Internationale Friedenstreffen in Münster und in Osnabrück stattfinden wird.

 

Die Initiative von Sant' Egidio

 

Eine italienische Laienbewegung, die sich nach ihrem Ursprungsort, der Kirche des heiligen Ägidius, Sant’Egidio nennt, hat die Initiative des heiligen Papstes Johannes Pauls II. aus dem Jahr 1986 aufgegriffen, mit der er eine Reihe von interreligiösen Friedenstreffen begonnen hatte. Jahr für Jahr lädt diese Gemeinschaft, zusammen mit den jeweiligen Ortsbischöfen, zu einer solchen interreligiösen Friedensbegegnung ein. Dieses Mal wird es bei uns sein.

Ich wünsche mir sehr, dass in einer Zeit von Irrungen, Kriegen und Terror, von Angst, die Gewalt hervorbringt, aus dieser Begegnung mit Menschen aller Religionen und Konfessionen ein starkes Zeichen des Friedens ausgeht, das dann auch weitergehen wird in die Feier des Katholikentages 2018 hier in unserer Stadt.

 

Jesus als das stärkste Argument

 

Ja, liebe Schwestern und Brüder, wir Christinnen und Christen haben eine Kraft, die aus dem Wort, das in Jesus Fleisch geworden ist, tragfähige Fundamente für ein friedliches Zusammenleben in einer Gesellschaft bietet. Deshalb brauchen wir gar keine Angst vor einer Islamisierung zu haben – weshalb? Wir glauben an das Wort Gottes, das in Jesus sogar in die Macht des Todes hineingegangen ist, sie überwunden und ewiges Leben ermöglicht hat. Vor wem sollten wir eigentlich Angst haben? Haben wir in diesem Jesus nicht das stärkste Argument in der Hand? Liegen nicht in Ihm „alle Schätze der Weisheit und Erkenntnis verborgen“ (vgl. Kol 1, 3)?

 

„Heiligung des Sonntags“

 

Und hier, liebe Schwestern und Brüder, bringe ich bewusst die Bedeutung des Sonntags ins Spiel, um die in unserer Stadt in diesem Jahr gestritten wurde. Er ist nämlich der Tag, der, wie Papst Johannes Paul II. einmal gesagt hat, „eine Zusammenfassung des christlichen Lebens und die Voraussetzung, es richtig zu leben ist“. Dabei geht es mehr als um die Frage, wie die Arbeit an diesem Tag einzuordnen ist, oder ob Läden offen oder geschlossen bleiben, es geht vielmehr darum, dass uns Christen an diesem Tag durch Ruhe und Unterbrechung der Hektik des Alltags die Möglichkeit gegeben ist, uns zu nähren durch die Teilnahme an der Eucharistie, indem wir das Wort Gottes und das eucharistische Brot empfangen.

So wird der Sonntag nicht nur frei, sondern geheiligt – ja, ich möchte dieses Wort „Heiligung des Sonntags“ bewusst verwenden, weil es mehr ausdrückt als alle notwendigen, auch mit dem Sonntag verbundenen sozialen Zwecke. Nur so kann der Sonntag, um es mit Johannes Paul zu sagen, „zur Seele der anderen Tage werden“.

 

„Wir haben mehr zu bieten“

 

Hier empfangen wir die Kraft, nicht nur formal von Werten zu sprechen, sondern sie inhaltlich zu füllen, weil wir den Auferstandenen feiern, den, der von Anfang an war und uns von Gott Kunde gebracht hat, die Kunde nämlich, dass unser Leben wesentlich Geschenk ist, dass – und hier zitiere ich noch einmal Johannes Paul – „die Zeit, die vom Auferstandenen und vom Herrn der Geschichte bewohnt wird, nicht der Sarg unserer Illusionen, sondern die Wege einer stets neuen Zukunft ist, die Gelegenheit, die uns gegeben wird, um die flüchtigen Augenblicke dieses Lebens in Samen der Ewigkeit umzuwandeln“.

Mit Aufmerksamkeit habe ich eine kritische Stellungnahme in einer deutschen Tageszeitung gelesen, in der es um die so genannten „stillen Feiertage“ ging. Diese Worte haben mich aufmerken lassen: „Wenn die Christenheit sich schon den einfachen Sonntag nur noch verkaufsoffen denken kann, sollte sie von „stillen Feiertagen“ schweigen“. Nein, liebe Schwestern und Brüder, da haben wir mehr zu bieten.

 

Sehnsucht nach einem Wort

 

Wir brauchen nicht in Sorge in das neue Jahr zu schauen, weil wir uns auf diesem Fundament befinden. Es ist das Fundament, dass aller menschlicher Anfang eingegründet ist in den Anfang, mit dem uns Gott schon immer voraus ist. Es ist ein Anfang, der nicht einmal von der Erbärmlichkeit alles Bösen verdunkelt werden kann, weil das Erbarmen der Liebe Gottes stärker ist.

Wie tief die Sehnsucht nach einem Wort ist, das nährt und heilt, hat der Priesterdichter Andreas Knapp in kurzen Worten ausgedrückt A. Knapp, Höher als der Himmel - Göttliche Gedichte, Würzburg 3. Auflage 2015, 28):

„im gedroschenen stroh
des leeren geredes

kein körnchen wahrheit mehr

täglich wächst der hunger
dass ein wort geboren werde

nahrhaft wie ein weizenkorn“

Und dann hören wir: „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt, und wir haben seine Herrlichkeit gesehen, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1, 14a). Ja: Das Wort ist geboren, nahrhaft wie ein Weizenkorn, voll Gnade und Wahrheit; denn das ist die Wahrheit, dass Gott uns mit Seiner Gnade nicht verlässt, sondern in ihr alles bereithält, was uns von innen her stark macht, alle irrationalen Ängste zu überwinden und ihnen mit der Kraft Seines Geistes zu widerstehen.

 

Auseinandersetzung und Umkehr

 

Ich möchte Sie einladen, sich vor dieser Auseinandersetzung nicht zu scheuen, sich freilich allerdings auch der eigenen Umkehr auszusetzen, die die Begegnung mit diesem Wort immer wieder mit sich bringt.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, auch im Namen meiner Mitbrüder im bischöflichen Dienst und im Domkapitel, ein gutes, auch für Sie persönlich ein gesundes und glückseliges Jahr, ein Jahr aber vor allem voll Hoffnung und Vertrauen, ein Jahr, in dem das innere Licht stärker ist als alles äußere Dunkel. Amen.