Humangeograph: Die Kirche beseitigt ihre Basis

Dorf-Experte Henkel kritisiert Großpfarreien

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Humangeograf Gerhard Henkel, früher Professor an der Uni Duisburg-Essen, lehnt Großpfarreien entschieden ab. Henkel hält Pfarrverbände für die bessere Lösung.

Humangeograf Gerhard Henkel, früher Professor an der Uni Duisburg-Essen, lehnt Großpfarreien entschieden ab. Er hält Pfarrverbände für die bessere Lösung, wie er im Interview sagt.

Kirche+Leben: Herr Professor Henkel, in Ihrem Buch „Rettet das Dorf“ schreiben Sie, die Kirche nehme generell den Wandel des Dorfes und die Bedürfnisse seiner Bewohner nicht wahr. Woran machen Sie diesen Befund fest?

Gerhard Henkel: Die Kirche hat ihre Präsenz und Aufmerksamkeit auf dem Land in den letzten Jahrzehnten deutlich zurückgefahren. Das zeigt ein Vergleich der Situation von 1950 und heute zwischen der Kirche und den übrigen Dorfvereinen: Der Sportverein hatte damals eine Fußball-Abteilung mit einer Jugend- und einer Seniorenmannschaft, und heute hat dieser Verein 14 Abteilungen mit allen Sportarten. Ähnlich ist es beim Musikverein. Die Kirche hat sich dagegen fast zu Tode geschrumpft.

Wie meinen Sie das?

Es gibt viele Fragen, die die Menschen auf dem Land bewegt haben und bewegen: Der harte ökonomische und soziale Wandel mit allen möglichen Traditionsbrüchen und mit Sorgen und Ängsten. Die Aufgabe von Landwirtschaft, von Handwerk oder Existenzfragen wie ›Weggehen oder Bleiben‹. Das alles ruft nach Fragen und Antworten. Damit könnte sich die Kirche beschäftigen und Antworten vermitteln.

Haben Sie dafür ein Beispiel?

Gerhard Henkel
„Großpfarreien dienen in keiner Weise der Seelsorge“, meint Gerhard Henkel, der als „Dorfpapst“ gilt. | Foto: privat

Ja. Im Kloster Hünfeld in Osthessen fand 2011 ein Kongress zur Landpastoral statt. Eine junge Dame aus der Landjugend, die ihre Dissertation und Habilitation über Landpastoral geschrieben hat, richtete dort einen flammenden Appell an die Kirche: Sie möge sich dem Zweiten Vatikanischen Konzil entsprechend dem Menschen zuwenden, sich öffnen und den modernen Fragen widmen. Es war ein richtiges Feuer in der Luft. Von den etwa 40 Anwesenden, fast alles Geistliche bis hin zu Bischöfen, gab es kein Wort der Diskussion. Das hat mich damals erschüttert.

Die katholische Kirche reagiert auf den Priestermangel mit Strukturreformen. Was halten Sie von einem Zusammenschluss zu Großpfarreien?

Die Kirche macht in der Not durch Priestermangel und Gläubigenmangel das Schlimmste, was man sich vorstellen kann: Sie löst die seit Jahrhunderten bestehenden Pfarreien auf und zwingt die Menschen, sich zu Großpfarreien zusammenzuschließen. Aus bisher 15, 20 oder noch mehr Ortsgemeinden, die oft viele Kilometer auseinander liegen, werden Großpfarreien gebildet, die nebulös „pastorale Räume“ genannt werden. Damit beseitigt die Kirche ihre Basis und schenkt den Gläubigen vor Ort kein Vertrauen.

Welche Folgen erwarten Sie von Gemeindefusionen?

Zigtausende von Menschen, die sich bisher ehrenamtlich betätigt haben, werden nicht mehr gebraucht. In den Orten, wo wir Pfarreiräte und Kirchenvorstände haben und noch 20 Engagierte freiwillig mitarbeiten, werden danach nur noch einer oder zwei für die Großpfarrei benötigt und aus kleineren Orten niemand mehr. Großpfarreien dienen in keiner Weise der Seelsorge.

Was bedeutet das?

Buch-Tipp
Gerhard Henkel
„Rettet das Dorf! Was jetzt zu tun ist“
304 Seiten, 22,00 €
dtv München, ISBN 978-3-423-28102-7

Vor Ort löscht die Kirche die Gruppe der Treuesten und Engagiertesten aus. Was da passiert, ist so radikal, dass die Menschen das überhaupt nicht verstehen. Sie sind verbittert und hasserfüllt und weigern sich in der Konsequenz, in die Großpfarreiräte zu gehen. Wenn anschließend ihre Kirchen verkauft und entweiht werden, lassen sie sich auch nicht mehr beerdigen, sondern bitten den evangelischen Pfarrer, die Beerdigung vorzunehmen. Es ist ein Traditionsbruch, der schlimmer nicht sein kann. Ich fasse es in meinem Buch mit der Formulierung zusammen: „Die Amtskirche beseitigt die Volkskirche“. Das schadet nur und bringt keine Vorteile. Es gibt Untersuchungen mit dem Ergebnis, dass solche Fusionen keine Kosteneinsparungen bringen.

Sehen Sie Parallelen zu den Kommunalreformen in den 1970er Jahren?

Ja, das sind Parallelen eins zu eins. Die Kirche wiederholt genau diese Fehler, bei denen ehrenamtlich tätige Bürger wegrationalisiert worden sind. Im gesamten Bundesgebiet hat man über 300.000 ehrenamtlich tätigen Kommunalpolitikern die rote Karte gezeigt, mit dem Signal: Wir brauchen euch nicht mehr, wir regeln das jetzt von oben. Es zeigt ja auch das Misstrauen, dass Staat und Kirche diesen Leuten gegenüber haben. Es werden Menschen vor den Kopf gestoßen, die in Jahrhunderten ein Denken, Fühlen und Handeln für die Kirche entwickelt haben, und eine Kultur der Selbstverantwortung aufgebaut haben. Die sozialen und demokratischen Kosten sind verheerend: Die Menschen wenden sich ab, gehen nicht mehr wählen, nehmen nicht mehr teil, und ziehen sich zurück.

Welche Alternativen zu den Großpfarreien sehen Sie?

Man sollte die Einzelpfarreien von Verwaltungsarbeit entlasten, koordinieren, zusammenarbeiten, sich abstimmen. Das ist selbstverständlich. Es macht Sinn, dass in Pfarrverbänden eine Verwaltung entsteht, die Seelsorgern Arbeit abnimmt. Das ist ein gut funktionierendes Modell, das sich in Kirche und Kommu­nalpolitik bewährt hat.

Also eher Pfarrverbände als Großpfarreien?

Auf jeden Fall. Die Unterschiede sind so groß, dass man das gar nicht oft genug sagen kann. Da bleibt die von Bürgern mitgetragene Pfarrei in den Dörfern. Und obwohl auch auf dem Lande die Gläubigenzahlen zurückgehen, würden die Menschen niemals von sich aus ihre eigene Kirche aufgeben. Sie haben sie gebaut, renoviert und in Ordnung gehalten. Auf dem Lande ist auch noch Volkskirche vorhanden, selbst wenn die Leute nicht mehr so zahlreich in den Gottesdienst gehen. Wenn ein Verein Jubiläum hat, eine neue Fahne geweiht oder Karneval gefeiert wird, ist es selbstverständlich, das mit der Kirche zu feiern.

In vielen Dörfern werden Schulen, die Post, Gasthöfe oder Supermärkte aufgegeben. Warum soll es bei der Kirche anders sein?

Der Verlust ist ja schon schlimm genug, bei den Schulen besonders. Aber man muss sich nicht mit allem abfinden. Vieles zur Entmündigung des Dorfes wird von oben gemacht. Oft werden wissenschaftliche Gründe für die Zusammenlegung angeführt. Das hat aber mit Wissenschaft nichts zu tun. In den Zentralen wird zu wenig darüber nachgedacht,  was das Dorf selber leisten kann. Es hat so viel an Selbstverantwortung in Jahrhunderten gelernt, besitzt diese Kompetenz bis heute und wird es auch in Zukunft tun können. Das müssen Institutionen wie Staat und Kirche merken. Die Kirche ist das Allerwichtigste, was das Land noch hat.

Warum?

Die Menschen brauchen die Kirche vor Ort, die Nähe, die unmittelbare Fürsorge, Hilfe und Trost in existenziellen Glaubensfragen. Kirche kann es ja nicht nur über Anrufbeantworter geben, die in den Zentralen stehen. Solche Horrormeldungen haben uns Pfarrer mitgeteilt: Sie berichten von Kranken, die in der Zentralpfarrei angerufen haben, – und dann hörten sie auf dem Anrufbeantworter, man möge sich an eine bestimmte Telefonnummer wenden, und es lief nochmal das Band. Irgendwann haben die Todkranken den Pfarrer im Altenheim angerufen, und er ist dann gekommen. Kirche kann man nicht von der Örtlichkeit lösen. Die Kirche hat genug Geld. Jedes Bistum könnte auf der Stelle 1.000 Gemeindereferentinnen einstellen.

Braucht der ländliche Raum die Kirche?

Ja. Ich bin fest davon überzeugt: Die Gesellschaft braucht die Kirche, und das Dorf braucht die Kirche. Dass dies gelingen kann, zeigen Bistümer wie Osna­brück, wo Dorfpfarreien gestärkt werden statt sie aufzulösen, wie im Bistum Münster geschehen.

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