Von einem Geistlichen missbraucht – und heute trotzdem Pfarrer

Ein Priester berichtet über seine Erfahrungen als Missbrauchsopfer

Thomas, der in Wirklichkeit nicht so heißt, ist katholischer Priester. Als einer der ersten seines Berufsstandes in Deutschland erzählt er, wie er selbst als Jugendlicher von einem Geistlichen sexuell missbraucht wurde.

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„Es war schon etwas merkwürdig, dass der Präses dieses Jugendverbands, ein älterer Lehrer und Priester, ständig in der Dusche anwesend war“, sagt Thomas, der in Wirklichkeit so nicht heißt. Mitte, Ende 50 ist er. Er sitzt in einem Garten hinter einem fränkischen Pfarrhaus. Seinem Pfarrhaus. Thomas ist selbst Priester und damit einer der ersten seines Berufsstandes, der in Deutschland die Geschichte seines eigenen Missbrauchs erzählt.

Der fragliche Präses habe „in kurzem Abstand immer wieder die Genitalien seiner ihm anvertrauten Jugendlichen untersucht“. Auch die von Thomas, der Mitte der 70er Jahre als Gymnasiast in dem Jugendverband Mitglied war.

 

Hinweisen glaubte man nicht

 

Aus vier Bamberger Gymnasien kamen Schüler jede Woche zu den Jugendtreffen. Als sehr sportbetont beschreibt Thomas den damaligen Leiter und als einen, der die „68er-Mentalität auf katholisch“ verkörpert habe. Offen und modern, aber auch gefürchtet.

Gerüchte hätten schon damals die Runde gemacht, manche Eltern hätten ihren Söhnen die Mitgliedschaft deshalb verboten, sagt Thomas. Anderen Betroffenen, die Vater oder Mutter etwas erzählt hatten, schenkte man keinen Glauben, wie sie heute berichten.

 

Der Täter schrieb dem Opfer die Empfehlung fürs Priesterseminar

 

Der mutmaßliche Täter war eine angesehene Persönlichkeit. Thomas hielt trotz allem weiter Kontakt. Der Geistliche schrieb ihm sogar ein Empfehlungsschreiben für die Aufnahme ins Priesterseminar. Auch bei der Primiz des Neupriesters war der frühere Präses der Jugendgruppe dabei. Umgekehrt nahm Thomas am Requiem für den Mitte der 2000er Jahre verstorbenen Geistlichen teil.

„Wenn man mich vorher gefragt hätte, hätte ich diese Rituale in der Dusche beschreiben können“, erinnert sich der Priester. Doch erst durch einen anderen Missbrauchsskandal im Jahr 2008 im Erzbistum Bamberg wurde Thomas klar, was früher in der Jugendgruppe geschehen ist.

 

Belastungen nach der Tat

 

Er meldete sich beim Missbrauchsbeauftragten des Erzbistums, auf dessen Anregung auch bei der Staatsanwaltschaft. Der mutmaßliche Täter war aber bereits tot, die Tat blieb für ihn ohne Folgen.

Nicht jedoch für Thomas. Die Konfrontation mit der Erinnerung belastete und belastet ihn schwer. Sein Hausarzt schrieb ihn wochenlang krank, er nahm Psychopharmaka, „das erste Mal in meinem Leben“. Deshalb möchte er auch anonym bleiben, würden ihn doch mögliche Zuschriften von anderen Opfern auch heute noch psychisch überfordern.

 

Doppelrolle als Opfer und als Priester

 

Doch nicht allein die Schilderung des Falls, sondern auch der Umgang damit durch andere Mitglieder der Jugendgruppe belastet Thomas. Freunde aus der Zeit, die er ebenfalls bat, die Dinge zu melden, lehnten es ab. „Da sind auch Freundschaften daran kaputtgegangen, an dieser Nicht-Unterstützung: ,Lasst die Toten ruhen', sagte man.“

Zu schaffen macht Thomas auch seine Doppelrolle: Zum einen ist er selbst Betroffener, zum anderen Vertreter der Täter-Institution. Als solcher erlebt er gerade, wie das Thema sexueller Missbrauch dazu führt, dass sich treue Mitglieder seiner Gemeinde von der Kirche abwenden. „Einerseits: Ich stecke da mit drin in einer Weise, die nicht rückgängig zu machen ist oder nicht wegzudrücken ist. Und auf der anderen Seite bin ich damit konfrontiert, dass Menschen uns nicht mehr trauen und nicht mehr vertrauen.“

 

Das Schweigen gebrochen

 

Doch die jüngst veröffentlichte Missbrauchsstudie der Bischofskonferenz hat auch ihr Gutes. Andere Betroffene aus der Jugendgruppe von damals brechen ihr Schweigen und äußern sich, in geschlossenen Gruppen bei Facebook. Das Erzbistum Bamberg hat jetzt weitere Opfer aufgerufen, sich zu melden. Sechs Meldungen seien bisher eingegangen, sagt ein Sprecher. In der Studie selbst sei bisher nur ein Fall des besagten Geistlichen erfasst.

Doch die Wahrheit allein reiche nicht, so Thomas: „Ein heilender Umgang mit den Betroffenen wäre notwendig, ein empathischer Umgang. Und wichtig wäre es, die eigene Hilflosigkeit zu formulieren.“

Im Nachruf auf den mutmaßlichen Täter heißt es übrigens, dass er hunderte Jugendliche in ihrem Entwicklungsprozess geprägt habe. Dass er sie ermutigt habe, nicht zu schweigen.

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