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Kenny Kendall aus Kiew war Manager, wollte promovieren und nebenher Musik studieren. Auf der Flucht vor dem Krieg brachte er eine durch Schüsse verletzte Freundin mit seinem Auto zuerst nach Berlin und fuhr dann weiter ins oldenburgische Elsfleth (Kreis Wesermarsch). Jetzt haben die Katholiken dort einen neuen Organisten.
Das „Heilig“ von Schubert mag er besonders. „I love the music“, sagt Kenny Kendall, lächelt und nickt. Hier im oldenburgischen Elsfleth hat er das Stück schon mehrmals gespielt. Ganz andere Klänge als in den Gottesdiensten in seiner Heimat Kamerun. Und auch anders als in Kiew, wo er jetzt vier Jahre zu Hause war – bis der Krieg kam.
Für den Masterabschluss in Öffentlicher Verwaltung war er aus Afrika nach Kiew gekommen, arbeitete mittlerweile für eine Investmentfirma und wollte im Oktober eine Doktorarbeit angehen. In seiner Freizeit spielte er Orgel und sang im Chor einer englischsprachigen Gemeinde in Kiew. Alles sah gut aus, eigentlich.
Er transportierte Flüchtende zum Bahnhof
Die Elsflether St.-Maria-Magdalena-Kirche. | Foto: Michael Rottmann
Bis zu jenem Donnerstag, morgens um 4 Uhr. „Plötzlich waren da Blitze am Himmel und grollende Explosionen.“ Von seinem Balkon aus konnte Kenny Kendall sehen, wie sich die Straßen füllten. „Menschen rannten zu den Geldautomaten. Vor den Tankstellen bildeten sich lange Schlangen.“ Alle wollten weg.
Er selbst zögerte zuerst. Sein Stadtviertel lag in einiger Entfernung von Regierungsgebäuden oder Militäranlagen. Noch fühlte er sich relativ sicher. „Ich wollte abwarten, um zu sehen, ob es wirklich so schlimm werden würde.“ Für den Notfall lud er aber schon mal Lebensmittel und Wasserkanister in sein Auto. Und er versuchte zu helfen. „Ich habe Menschen zum Bahnhof gebracht.“
Mit einer angeschossenen Freundin in Richtung Berlin
Kenny Kendall stammt aus Kamerun und lebte bis kurz nach Beginn des Ukraine-Kriegs in Kiew. | Foto: Michael Rottmann
Auch eine Freundin war darunter. Sie wollte einen Zug erreichen, schaffte es aber nicht mehr hinein. Als sie kurz darauf beim Versuch, die Stadt zu verlassen, in einen Schusswechsel geriet und verletzt wurde, entschloss er sich kurzerhand dazu, sie und sich selbst mit seinem eigenen Auto in Sicherheit zu bringen – und fuhr mit ihr in Richtung Westen.
Kenny Kendall schildert dramatische Szenen. „Drei Kugeln hatten sie am Bein, am Bauch und an der Seite getroffen.“ Immer wieder musste er anhalten und die Verbände wechseln. Am Ende schafften die beiden es bis nach Berlin, wo er sie in ein Krankenhaus brachte. Es gehe ihr schon besser. Kenny Kendall steht in Kontakt zu ihr. „Sie kann voraussichtlich bald entlassen werden.“
Seine vorübergehende Heimat ist Elsfleth
Er hat das Grauen des Krieges gesehen, Tote, die in den Straßen liegen. Das hat ihm noch einmal deutlich vor Augen geführt: „Was in der Ukraine passiert, ist schrecklich. Die vielen Opfer, Zivilisten und Soldaten, die, obwohl sie kämpfen, ja auch Opfer sind. Auch die Wirtschaft leidet, die ukrainische genauso wie die russische, die europäische, alle.“
Er selbst fuhr von Berlin aus weiter nach Westen, zu einer Tante, die im oldenburgischen Elsfleth lebt. Dort ist er vorerst untergekommen und hat auch schon neue Kontakte gefunden. Vor allen Dingen dank seiner großen Leidenschaft: der Musik.
Seit langem hat Elsfleth wieder einen Organisten
Wolfgang Schmitz ist Pfarrer in der St.-Marien-Pfarrei Brake, zu der Elsfleth gehört. | Foto: Michael Rottmann
Quasi als Autodidakt hatte Kenny Kendall sich schon in Kamerun das Orgelspiel beigebracht, musizierte im Gottesdienst, sang und leitete den Kirchenchor. In Kiew setzte er sein Talent als Musiker, Sänger und Chorleiter in der englischsprachigen Kirchengemeinde ein und plante sogar ein nebenberufliches Studium an der Musikakademie.
Deshalb sprach er vor einigen Wochen nach dem Gottesdienst in der Elsflether Kirche beim Kirchencafé den Pfarrer an: Ob er sich mal die Orgel ansehen dürfe?
Dabei erkannten Pfarrer Wolfgang Schmitz und Pastoralreferent Thomas Fohrmann schnell die mit dem neuen Gemeindemitglied verbundenen Möglichkeiten. „Er ist für uns ein Geschenk“, sagt Schmitz. „Wir haben hier in Elsfleth ja schon lange keinen Organisten mehr.“
Vielleicht ein Neustart in Deutschland
Das hat sich mit Kenny Kendall geändert. Noch spielt er die klassisch-deutschen Stücke etwas langsamer. Weil er die deutschen Lieder noch nicht so gut kennt. Aber an der kleinen Elsflether Orgel bewegt er sich schon ziemlich souverän.
Einen neuen Organisten für Elsfleth und Brake zu haben – das sei aber nur das eine, sagt Thomas Fohrmann. Dazu komme: „Kenny Kendall kommt als Geflüchteter. Mit seiner besonderen Geschichte. Damit bekommt der Ukraine-Krieg hier in Brake und Elsfleth ein Gesicht.“ Wo sich die Gemeinde doch mit verschiedenen Angeboten um Geflüchtete kümmere.
Bei der Maiandacht gab es Applaus für Kenny Kendall
Thomas Fohrmann ist Pastoralreferent in Brake. | Foto: Michael Rottmann
Vorübergehend wird er wohl bleiben. „Ich kann keine großen Pläne machen im Moment“, sagt Kenny Kendall. „Aber ich hoffe darauf, in Deutschland integriert zu werden.“ Er bringe schließlich Qualifikationen und Erfahrungen für einen Berufsstart mit. „Oder ich könnte in Deutschland auch meine Studien fortsetzen.“
Die Gemeinde jedenfalls hat ihn gut aufgenommen, etwa bei einer Maiandacht in Brake. Als Pastoralreferent Thomas Fohrmann Kenny Kendall angekündigt hatte, „da haben die Teilnehmer lange, lange applaudiert. Das war richtig schön!“
St. Marien Brake stellt Wohnraum für Geflüchtete
Mit mehreren Angeboten an den Standorten Brake und Elsfleth beteiligt sich die St.-Marien-Pfarrei an der Aufnahme von aus der Ukraine geflüchteten Menschen. So leben derzeit zwei Familien im Pfarrheim von Elsfleth, dessen Jugendräume dafür von der Stadt Elsfleth provisorisch hergerichtet wurde. Auch in der alten, derzeit noch leerstehenden Kita in Elsfleth sollen Unterkünfte geschaffen werden. Im neuen Kindergarten ist zudem ein wöchentlicher Treffpunkt für ukrainische Eltern und Kinder eingerichtet worden. Im derzeit leerstehenden und renovierungsbedürftigen Pfarrhaus von Brake könne bei Bedarf zudem ein „Flüchtlingscafé“ eingerichtet werden, erklärte dazu Pastoralreferent Thomas Fohrmann.