Interview mit dem Medizin-Ethiker und Theologen Jochen Sautermeister, Universität Bonn

Ethik-Experte: Bei Triage dürfen Geimpfte nicht bevorzugt werden

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Das Bundesverfassungsgericht hat heute die Bundesregierung aufgefordert, "unverzüglich" eine Triage gesetzlich zu regeln. Dabei gibt es durchaus Regeln klare Regeln. Welche das sind, wer über die Auswahl von Patienten entscheidet und ob auch Ungeimpfte im Triage-Fall wie weiterbehandelt sollen, sagt der Medizin-Ethiker und Theologe Jochen Sautermeister im Interview.

Herr Professor Sautermeister, „Triage“ bedeutet wörtlich „Auswahl“. Was sind Kriterien, die über eine Auswahl darüber entscheiden, ob jener schwerkranke Patient weiterbehandelt wird, ein anderer schwerkranker Patient aber nicht?

Allen Menschen kommen aufgrund ihrer unantastbaren Würde prinzipiell die gleichen Schutzrechte zu. Angesichts dieses Gleichheitsgrundsatzes verbietet sich jegliche Auswahl, die sich nicht an medizinischen Parametern orientiert. Entscheidend ist angesichts gleicher akuter Dringlichkeit die klinische Erfolgsaussicht, also die aktuelle Überlebenswahrscheinlichkeit. Dabei ist allerdings immer auch der Wille des Patienten zu beachten. Wenn jemand nicht mehr intensivmedizinisch, sondern nur noch palliativmedizinisch behandelt werden will, ist das zu respektieren.

In der Praxis hat sich gezeigt, dass das Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht sehr gut geeignet ist, um zu verantwortlichen medizinischen Entscheidungen zu kommen, die nicht durch implizite oder uneingestandenen Werturteile getrübt werden. Denn gerade so wird verhindert, dass Lebensqualitätsurteile, Bevorzugung aufgrund vermeintlicher Systemrelevanz oder Benachteiligungen etwa aufgrund von Alter, Herkunft oder Behinderung das Triage-Urteil beeinflussen. Aber klar ist: Triage ist ultima ratio – am besten, es kommt erst gar nicht so weit!

Wer darf das entscheiden? Wie würde eine Triage konkret ablaufen?

Johannes SautermeisterJochen Sautermeister (46) ist Professor für Moraltheologie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Fragen der Medizin-Ethik etwa am Ende des Lebens, über Organtransplantation und Reproduktionsmedizin gehören zu seinen Forschungsschwerpunkten.

Entscheidungen werden in einem Team gemäß dem Mehr-Augen-Prinzip getroffen. Neben intensivmedizinisch erfahrenen Ärzten, einer erfahrenen Pflegekraft und eventuell weiteren Personen soll auf der Grundlage konkreter medizinischer Parameter zuerst die intensivmedizinische Behandlungsnotwendigkeit abgeklärt werden, um dann die individuelle medizinische Erfolgsaussicht abzuschätzen, die aktuelle Erkrankung zu überleben. Dabei sollen alle relevanten medizinischen Faktoren berücksichtigt werden, die die konkrete aktuelle Erfolgsaussicht beeinflussen. Erst auf dieser Grundlage wird eine Triage-Priorisierung vorgenommen, wenn nicht genügend intensivmedizinische Ressourcen zur Verfügung stehen – vorausgesetzt, jemand wünscht eine intensivmedizinische Behandlung und eine intensivmedizinische Behandlung ist überhaupt noch medizinisch indiziert.

Sollten oder dürften geimpfte Schwerkranke im Fall einer Triage ungeimpften Schwerkranken vorgezogen werden?

Wenn man den Gleichheitsgrundsatz anerkennt, dann verbietet es sich, bei konkreten Triage-Erwägungen Menschen zu benachteiligen, weil sie eine bestimme Einstellung zum Impfen haben und sich – aus welchen Gründen auch immer – nicht haben impfen lassen. Allein die aktuellen klinischen Erfolgsaussichten zum Maßstab für Entscheidungen zu nehmen, heißt: Es darf bei der Triage keine Rolle spielen, ob man geimpft ist oder nicht. Das mögen manche zwar als ungerecht empfinden; aber ethisch ist es nicht gerechtfertigt, geimpfte Personen zu bevorzugen.

Welche bindenden Regeln braucht es Ihrer Meinung nach jetzt vom Gesetzgeber? Wie konkret können die sein, wie grundsätzlich müssen sie bleiben?

Meines Erachtens gibt es mit den klinisch-ethischen Empfehlungen „Entscheidungen über die Zuteilung intensivmedizinischer Ressourcen im Kontext der Covid-19-Pandemie“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), die in Abstimmung mit den relevanten Fachgesellschaften und der Akademie für Ethik in der Medizin ausgearbeitet werden, bereits bewährte Behandlungsempfehlungen. In sie fließen immer die aktuellen Erkenntnisse und Erfahrungen mit ein. Die Empfehlungen haben einen Konkretionsgrad, den der Gesetzgeber nicht überbieten sollte. Sollten sich nämlich neue medizinische Befunde oder praktische Einsichten ergeben, die eine Überarbeitung der Behandlungsempfehlungen erforderlich machen würden, müsste ja immer das Gesetz überarbeitet werden. Das wäre auf Dauer schwer praktikabel.

Es ist stattdessen sinnvoll, dass der Gesetzgeber eher grundsätzliche Regelungen festlegt, die dann von den Fachgesellschaften ausgestaltet werden. Auf diese Weise lassen sich einerseits Rechtssicherheit – auch angesichts der vom Verfassungsgericht behandelten Sorgen um Diskriminierung besonders vulnerabler Personengruppen – herstellen und andererseits dem aktuellen medizinischen Sachstand Rechnung tragen. Wenn der Gesetzgeber gesetzlich bestimmt, dass entscheidend für Triage-Entscheidungen der Gleichheitsgrundsatz ist und das Diskriminierungsverbot sowie als Entscheidungsmaßstab die aktuellen klinischen Erfolgsaussichten gemäß den medizinischen Standards gelten sollen, also „dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird“, wie das Verfassungsgericht sagt, dann wäre das ganz entscheidend.

Wir sind kurz vor dem dritten Corona-Jahr. Hat sich die Politik um eine Entscheidung in dieser schweren Frage gedrückt?

Wie gesagt, bislang wurde diese Frage in den einschlägigen und zuständigen Fachgesellschaften sehr sorgfältig, ausführlich und konkret diskutiert. In deren klinisch-ethischen Empfehlungen fließen die konkreten Praxiserfahrungen ein, sodass sich in ihnen ein hohes Maß an Professionalität und Verantwortung abbildet. Die Behandlungsempfehlungen haben ein sehr hohes medizinisches und ethisches Niveau und basieren auf Praxiserfahrungen. Wenn die Politik nun zu einer Rechtssicherheit beiträgt, ist das zu begrüßen. Meines Erachtens wäre aber gerade mit Blick auf die Bedingungen der Gesundheitsversorgungen und der Pflege noch einiger politischer Handlungsbedarf.

Eine gewisse Auswahl gibt es doch schon jetzt: Wenn Corona-Kranke Intensivbetten belegen, werden andere Schwerkranke nicht behandelt. Wie bewerten Sie das?

Hier zeigt sich die systemische und gesellschaftliche Dimension des Problems. Es müsste viel mehr dafür getan werden – Stichwort: Entlohnung und Arbeitsbedingungen –, dass es genügend Pflegekräfte gibt, um alle Intensivbetten mit Beatmungsplätzen in Betrieb nehmen zu können und das intensivmedizinische Angebot im Notfall insgesamt zu erhöhen. Das kostet Geld. Das Ziel muss es doch sein, überhaupt Triage-Situationen zu vermeiden. Das bedeutet außerdem, dass wir alle uns so verhalten sollten, dass die Ausbreitung des Virus möglichst eingedämmt wird. Die AHA-Regeln, Impfen und Testen bleiben weiterhin zentral!

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