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In Zeiten erlaubten assistierten Suizids muss es Senioreneinrichtungen geben, die Bewohner nicht täglich mit der Frage behelligen, ob sie sich nicht als Nächste aus dem Leben wollen. Das hat der Berliner Moraltheologe Andreas Lob-Hüdepohl beim 34. Tag der Altenpflege in Cloppenburg gefordert. Vor 520 Pflegerinnen und Pflegern in der Cloppenburger Stadthalle bezeichnete es als besonders wichtig, dass Menschen die Wahl haben, für welche Einrichtung sie sich entscheiden.
Das gehöre zum Alltag, sagt Birgit Bührmann in einer Pause des 34. „Tages der Altenpflege“ in Cloppenburg. Seit zehn Jahren ist sie Pflegedienstleiterin in der Vechtaer Caritaseinrichtung Hedwigstift und hat solche Fälle schon öfter erlebt: Menschen, die sich wünschen, aus dem Leben zu gehen.
Meist seien schwere Erkrankungen die Ursache, aber oft spiele auch Einsamkeit eine Rolle. „Sie sehen den Sinn nicht mehr.“ So wie erst kürzlich wieder eine Bewohnerin. Birgit Bührmann hat ihren Wunsch noch im Ohr. „Wir haben das gehört und wahrgenommen. Und jetzt sprechen wir im Team darüber.“
Verdrängung von Suizidwünschen ist großes Problem
Und sie machen damit genau das, was Andreas Lob-Hüdepohl in seinem Vortrag vor 520 Pflegerinnen und Pflegern in der voll besetzten Cloppenburger Stadthalle forderte: Das Thema Suizidwunsch aus der Tabuzone zu holen und offen anzusprechen.
„Eines der größten Probleme ist das Verdrängen solcher Wünsche“, warnte der Ethik-Professor. „Deshalb ist es wichtig, sie zu hören und ernst zu nehmen.“ Und: Äußerungen richtig einzuordnen. „Es ist oft kein Wunsch, grundsätzlich nicht weiter leben zu wollen. Sondern: unter den obwaltenden Bedingungen.“
Suizid wird als letzter Akt der Freiheit empfunden
Die Cloppenburger Stadthalle war mit 520 Pflegerinnen und Pflegern bis auf den letzten Platz besetzt. | Foto: Michael Rottmann
Lob-Hüdepohl: „Der Mensch erkennt keine Gestaltungsmöglichkeit mehr für sein Leben. Deshalb sieht er den Suizidwunsch als letzten Akt der Freiheit, sich einer solchen als unerträglich wahrgenommenen Lebenssituation zu entziehen.“
Pflegende müssten „sprachfähig“ zu dem Thema gemacht werden, fordert der Moraltheologe. „Das Sprechen über das Thema Tod und Sterben muss geübt werden.“ Ohne versteckte Schuldvorwürfe, ohne Tabuisierung, ohne Bagatellisierung. Um zu stärken, was er das „Gebot der Stunde“ in Pflegeheimen nennt: dass Verantwortung und Prävention gestärkt werden.
Pflegende müssen sprachfähig gemacht werden
34. Tag der Altenpflege
„Assistenz beim Suizid oder Hilfe beim Sterben“ lautete das Thema beim 34. „Tag der Altenpflege“ des oldenburgischen Landescaritasverbands (LCV). 520 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren dazu in die Cloppenburger Stadthalle gekommen. Neben dem Referat von Andreas Lob-Hüdepohl und einem Theaterstück zum Thema sprachen dabei auch Praktikerinnen aus der Hospizarbeit und aus der Trauerbegleitung über ihre Erfahrungen: Renate Lohmann, Leiterin der Stiftung Hospizdienst in Oldenburg und Trauerbegleiterin Tanja M. Brinkmann aus Bremen.
Besonders nach dem vor fast genau drei Jahren veröffentlichten Urteil des Bundesverfassungsgerichts sei das wichtig. Das Gericht hatte unter anderem entschieden, dass das Recht auf Selbsttötung eine Frage der Menschenwürde ist – und geschäftsmäßige Assistenz dabei nicht mehr grundsätzlich unter Strafe stehen soll.
Der katholische Theologe sieht darin eine große Herausforderung auch für kirchliche Häuser. Sie müssten sich fragen: „Was bedeutet das für uns? Kirchliche Einrichtungen sind ja kein grundrechtsfreier Raum.“ Auch nicht katholische.
Nähe und Kontakte sind besonders wichtig
Sein Ansatz: „Es muss darauf ankommen, Menschen überhaupt nicht in die Lage kommen zu lassen, dass sie eine Selbsttötung wünschen.“ Dafür seien Nähe und Kontakte besonders wichtig. Damit Pflegekräfte möglichst früh erkennen könnten, dass sich so ein Wunsch entwickelt. Nicht, um diesen Wunsch zu verteufeln, sondern, um in respektvollen Gesprächen „Druck aus der Situation“ zu nehmen.
Der Wunsch nach einem Suizid falle schließlich nicht vom Himmel. „Sondern er baut sich auf.“ Lob-Hüdepohl zeichnete Stufen eines solchen Prozesses nach: Menschen zeigen, sie sind „lebenssatt“ und sagen, es reiche jetzt. Sie hören auf zu essen. Sie äußern den Wunsch, sterben zu können. Bis zur konkreten Bitte um Hilfe bei einem Suizid.
Wünsche müssen ernst genommen werden
Eine Szene aus dem Stück „Der verkürzte Weg“. Damit hat die Lingener Theatergruppe „Restrisiko“ die Not der Pflegenden aufgezeigt. | Foto: Michael Rottmann
Es sei wichtig, so einen Wunsch ernst zu nehmen. Aber ebenso wichtig sei der Grundsatz: „Wir sollen eine frei verantwortliche Entscheidung ermöglichen.“ Das sei besonders angesichts einer Zahl wichtig, die auch das Bundesverfassungsgericht nenne: dass etwa 95 Prozent der Suizidwilligen nicht ernsthaft und frei verantwortlich einen Suizid begehen wollten. Lob-Hüdepohl: „Das heißt: 95 Prozent müssten vor einer Fehlentscheidung geschützt werden!“
Auch deshalb sieht er Altenpflegeeinrichtungen – und das unabhängig von der Konfession – in der Pflicht, im Gespräch mit Betroffenen auch andere Optionen aufzuzeigen. Etwa in Gesprächen auf den Stationen. Gespräche, in denen es darauf ankomme, den Betroffenen aufzuzeigen, was Lob-Hüdepohl „Sichtachsen auf das Leben“ nennt: die Möglichkeit der Palliativmedizin oder die seelsorglicher oder psychosozialer Begleitung.
Kirchliche Einrichtungen können Schutzräume sein
Gespräche auch, um herauszufinden, ob sich ein Betroffener möglicherweise durch Erwartungshaltungen des familiären Umfelds oder der Familie zu einem Suizidwunsch gedrängt sieht. Formal zwar frei verantwortlich, aber faktisch nicht. Ein Phänomen, das das Bundesverfassungsgericht „prekäre Selbstbestimmung“ nenne.
Kritisch sieht Lob-Hüdepohl auch die Gefahr, dass Suizide durch geschäftsmäßige Angebote für assistierten Suizid „normal“ werden. Dass eine Gesellschaft sich daran gewöhnt. „Und dass dann Druck entsteht, etwas zu tun, weil ,man‘ es tut.“
In diesem Spannungsfeld sei es wichtig, dass Menschen die Wahl bleibe, in welche Einrichtung sie gehen wollen. Zum Beispiel in palliativ-barmherzige Schutzräume, wie kirchliche Häuser sie sein müssten. Wo nicht Sterbehilfevereine monatlich eine Beratungsstunde anböten oder Plakate aufhängten. Frei wählbare Schutzräume für alle, „die nicht täglich mit der Frage behelligt werden wollen, ob sie sich nicht vielleicht als nächster aus dem Leben nehmen wollen.“
Theaterstück zum Thema
Sie habe immer gedacht: „Für mich ist das kein Thema“, sagt Wilma Tietz nach der Aufführung. „Aber wenn man älter wird, dann beschäftigt man sich mehr damit.“ Und besonders, wenn man wie die 84-Jährige beim Theaterstück der Lingener Theatergruppe „Restrisiko“ eine Hauptrolle spielt.
Wilma Tietz war in die Figur von „Frau Claasen“ geschlüpft. Einer Frau, die den Wunsch äußert, vorzeitig aus dem Leben zu gehen. Und „Schwester Sonja“, eine der weiteren Rollen des 20-minütigen Impulsstücks beim 34. Tag der Altenpflege, solle ihr dabei helfen und ihr die Hand in den letzten Minuten halten.
In Dialogform kamen dabei die Sorgen und Ängste zum Vorschein, die Pflegerinnen und Pfleger in solchen Situationen haben können. Schwester Sonja, die sich von dem Wunsch überfordert fühlt und nicht verstehen kann, dass ausgerechnet Frau Claasen genug hat vom Leben. Frau Claasen, die immer so ausgeglichen und zufrieden war, fröhlich und geduldig. Die beim Tanzkurs dabei war, in deren Zimmer Fotos von ihren vielen Reisen an der Wand hingen. Und dann so etwas! „Und ausgerechnet ich soll ihr dabei helfen. Wie kommt sie bloß dazu?“ Schwester Sonja ist fassungslos. Und auch ihr Kollege, der sagt „Aber wenn das doch ihr Wille ist?“, ist ihr keine Hilfe.
Die Truppe des Lingener Theaters „Restrisiko“ brachte auch Frau Claasens Sicht auf die Bühne. Die anhand von Fotos aus ihrem erfüllten Leben berichtet, um dann zu sagen: „Ich muss jetzt gewindelt werden. Alle Bekannten sind weggestorben. Ich will und kann nicht mehr. Ich will nicht warten, bis der Tod kommt. Und Schwester Sonja soll bei mir bleiben, bis ich eingeschlafen bin.“
Was Schwester Sonja weiter unter Druck setzt. „Ein Teil von mir, der will das wohl“, sagt sie, „aber ein anderer Teil will das nicht.“ Eine Kollegin in ähnlicher Situation benennt ihre Ängste konkret: „Wie lange dauert das wohl? 10 Minuten? 20? 30?“ Und sie spricht Fragen an, die Pflegende zudem bedrängen können: „Wie geht es mir selbst danach? Kann ich mit diesen Bildern im Kopf leben? Wer ist dann für mich da? Wer hilft mir?“
Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe
Menschen mit Suizidgedanken können sich an die Telefonseelsorge wenden. Sie ist unter den Rufnummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 täglich rund um die Uhr erreichbar, berät kostenfrei und anonym. Der Anruf findet sich weder auf der Telefonrechnung noch in der Übersicht der Telefonverbindungen wieder. Es gibt auch eine E-Mail-Beratung. Sie läuft über die Internetseite der Telefonseelsorge und ist daher nicht in Ihren digitalen Postfächern zu finden. Hier geht es zur Telefonseelsorge.