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Bei einem Europakongress im Vatikan hat Papst Franziskus den Traum von einem geeinten und einträchtigen Europa beschworen. Doch hinter verschlossenen Türen traten große Meinungsverschiedenheiten unter den Teilnehmern zutage.
Natürlich werde das Thema Flucht und Migration auch unter den europäischen Bischöfen kontrovers diskutiert, räumte Münchens Kardinal Reinhard Marx ein. „Aber wir folgen dem Papst. Wir sind katholisch.“ So kurz und bündig erklärte Marx, der auch Präsident der EU-Bischofskommission COMECE ist, den Sachverhalt zum Auftakt der Dialogveranstaltung „(Re)thinking Europe“.
Die COMECE hatte zu einem großen Zukunftskongress über Europafragen in den Vatikan geladen. In der Synodenaula, wo sich sonst die Bischöfe der Weltkirche zu ihren Beratungen treffen, saßen nun Europaparlamentarier, Minister, Diplomaten und Funktionäre mit katholischen Bischöfen und Vertretern anderer christlicher Kirchen bunt gemischt zusammen, um über den „christlichen Beitrag zum europäischen Projekt“ zu diskutieren.
Timmermans: Ungleiche Lastenverteilung
Am Ende stand nicht nur Marx' Anregung eines neuen Europäischen Konvents, um die Fragen der Einigung in einem breiten Forum zu beraten, sondern vor allem die Bekräftigung, gerade Christen könnten aus ihrem religiösen Erbe heraus eine „Vision für Europa“ anbieten und verwirklichen helfen. Es gehe um „Einheit in der Vielfalt“, so Marx. „Als Kirche kennen wir die Herausforderung, das Gemeinsame herauszustellen und dabei Spannungen auszuhalten.“
Indessen war die Veranstaltungsregie bemüht, diese Spannungen nicht zu sehr nach außen treten zu lassen. Bei der Eröffnung forderte Marx, die Kirche in Europa müsse „Räume der Hoffnung eröffnen und ermutigen, Verantwortung zu übernehmen“. Der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans, Ester Vizepräsident der Europäischen Kommission, verwies auf den päpstlichen Titel „Pontifex“, Brückenbauer – gerade dies sei in Europa heute wichtig, einschließlich der Fähigkeit zum Teilen. Derzeit aber schulterten in der Migrationskrise einige europäische Staaten große Lasten, während sich andere heraushielten.
Innerkirchlich „enorme Meinungsunterschiede“
Stichwort „COMECE“
Die Bischofskonferenzen der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind vertreten in der EU-Bischofskommission COMECE. Die Abkürzung kommt aus dem Lateinischen und steht für Commissio Episcopatum Communitatis Europensis.
Die COMECE verfügt über ein ständiges Sekretariat mit Sitz in Brüssel. Sechster Vorsitzender in ihrer über 35-jährigen Geschichte ist der Erzbischof von München und Freising und Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx (64). Generalsekretär der COMECE ist seit 2016 der Franzose Olivier Poquillon.
Die COMECE entstand 1980, ein Jahr nach den ersten Direktwahlen des Europaparlaments. Das Sekretariat der COMECE ähnelt als Verbindungsstelle zur EU-Politik den Katholischen Büros in Deutschland.
Nach dieser mahnenden Ouvertüre schlossen sich die Türen der Synodenaula für die Öffentlichkeit. Die Teilnehmer debattierten in kleinen Runden – und hier ging es alles andere als harmonisch zu. Dem Mainzer Sozialethiker Gerhard Kruip etwa fiel auf, dass es innerkirchlich „in vielen Fragen enorme Meinungsunterschiede“ gebe. Dazu gehöre neben der Migration beispielsweise das Thema Familie. Sein Eindruck: „Wir sind in der katholischen Kirche offensichtlich noch nicht in der Lage, das konstruktiv auszutragen. Es bestehen gegenseitige Unterstellungen, es existieren Vorurteile, es gibt das Gefühl, das einem etwas aufgedrückt werden soll.“
Die Konfliktlinien dürften vor allem zwischen den Bischöfen osteuropäischer Länder wie Polen oder Ungarn und der Mehrheit der Oberhirten Westeuropas verlaufen. Unlängst beteten über 150.000 Polen mehr oder weniger demonstrativ an ihrer Landesgrenze den Rosenkranz – mit dem Segen ihrer Bischofskonferenz. Manche deuteten dies als Zeichen gegen islamische Zuwanderung.
„Antieuropäische Haltung“ auch bei Kirchenleuten
Hinter dem innerkirchlichen Dissens steht für Kruip die Frage, wie mit gesellschaftlicher Modernisierung umgegangen werden soll: Manche sähen Modernisierungsprozesse im Gang, die gestaltbar und durchaus nicht gegen christliche Werte gerichtet seien; andere Teile der Kirche in Europa fühlten sich offenbar eher bedroht von etwas, „was ihnen fremd ist und gegen das sie sich wehren müssen“. So nimmt Kruip bei manchen Kirchenvertretern eine „antieuropäische Haltung“ wahr, die Auffassung, europäische Institutionen und eine weitere europäische Einigung schadeten christlichen Werten.
Papst Franziskus zeigte sich jedenfalls nicht euroskeptisch. Beim Abschluss des Kongresses beschwor er den „Traum von einem geeinten und einträchtigen Europa“ und forderte die Christen auf, „Europa wieder eine Seele zu geben“. Der wesentliche Beitrag des Christentums sei es, die menschliche Person in den Mittelpunkt zu stellen und den Gemeinschaftssinn zu wecken. Zuwanderer nannte der Papst „mehr eine Ressource denn eine Last“.
Franziskus warnt davor, „Protest zur Botschaft“ zu machen
Angesichts des Flüchtlingsdramas dürfe man nicht vergessen, dass man es mit Menschen zu tun habe. Gleichzeitig gelte es, die Einwanderungspolitik mit „Klugheit“ zu gestalten und den Möglichkeiten des jeweiligen Landes Rechnung zu tragen. Franziskus warnte auch vor einem Populismus, der den Protest zur Botschaft mache, ohne eine echte politische Alternative anzubieten.
Ob dem Papst alle Teilnehmer folgten, muss bezweifelt werden. Für Kruip braucht es den Mut, die bestehenden Konflikte offen auszutragen. „Man kann nur versuchen zu verstehen, warum andere zu anderen Auffassungen kommen. Und dann muss man miteinander ringen“, so der Sozialethiker.