Interview mit Pfarrer Stefan Jürgens

Extra-Service für Weihnachts-Christen?

Zu keinem Fest im Jahr sind die Kirchen so voll wie zu Weihnachten. Und manche der Gottesdienstbesucher kommen auch nur zu Weihnachten. Wie soll ein Priester damit umgehen? Antworten aus der Praxis von Pfarrer Stefan Jürgens.

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Zu keinem anderen Fest im Jahr sind die Kirchen so voll wie zum Hochfest der Geburt Christi. Stefan Jürgens war bis 2016 Pfarrer in St. Otger Stadtlohn, heute ist er Pfarrer in Heilig Kreuz Münster. Vor Weihnachten 2015 hat er uns dieses Interview gegeben, in dem er über Chancen und Grenzen der Liturgie an Weihnachten spricht - und über Familienrituale.

Kirche+Leben: Wie viele Menschen kommen an gewöhnlichen Sonntagen in die Kirchen von Stadtlohn?

Pfarrer Stefan Jürgens: Sonntags sind es zehn Prozent, manchmal bis zu zwölf Prozent. Wir haben 16.200 Gemeindemitglieder, durchschnittlich feiern insgesamt 1.700 Gläubige eine von acht Eucharistiefeiern in drei Kirchen und einer Seniorenheim-Kapelle mit. Macht einen Durchschnittswert von rund 200 Menschen pro Gottesdienst. In unserer größten Kirche, St. Otger, gibt es Sitzplätze für nahezu 1.000.

Und wie sieht es an Weihnachten aus?

An Weihnachten haben wir etwa 8.000 Kirchenbesucher. Etwas mehr als die Hälfte aller Gemeindemitglieder sind bei unseren neun Gottesdiensten an Heiligabend und sieben am ersten Weihnachtstag.

Wie unterscheiden sich die Gemeinden in den Gottesdiensten?

An den drei Krippenfeiern an Heiligabend nehmen auch viele Menschen teil, die sonst nur selten in die Kirche kommen. In die Christmette und in die Vesper am ersten Weihnachtstag kommen Christen, die immer da sind – und die Christmette um 22 Uhr ist dennoch richtig voll. Zudem gibt es noch eine Festmesse um 17 Uhr, die weniger „Insider“, sondern vor allem jene besuchen, die sagen: „Wir möchten aber doch irgendwie zu Weihnachten in die Kirche.“ Aber sie alle sind Gemeinde, jeder ist herzlich willkommen.

Was bedeutet das für die Gestaltung der Liturgie?

Es ist ganz wichtig, als Priester so zu sprechen, dass man auch von den Menschen verstanden wird. Manche Kollegen sprechen ja „Kirchisch“ oder in einem pathetischen Salbaderton – aber das muss man bleiben lassen. Ich muss vielmehr diese Menschen so ansprechen wie zum Beispiel Radiohörer ohne besonderen Kirchenkontakt.

Warum gehen diese Menschen nicht in die Christmette?

Weil sie den Gottesdienst dann besser in ihren familiären Festablauf bringen können. Hinterher ist dann die Bescherung. Und vielleicht auch, weil die 17-Uhr-Messe liturgisch einfacher ist. Es werden sehr bekannte Lieder gesungen, die Klassiker, das ist ganz wichtig. Es werden leicht verständliche Texte vorgetragen. Es ist zu Beginn ein wenig dunkel in der Kirche.

Finden Sie es schade, dass es eine 17-Uhr-Gemeinde und eine 22-Uhr-Gemeinde und nicht eine einzige Gemeinde an Weihnachten gibt?

Das finde ich sogar sehr schade, aber ich habe mich daran gewöhnt. Ich bin ja Priester geworden, um eine Gemeinde aufzubauen und nicht, um archaisch-religiöse Bedürfnisse zu erfüllen. Heute haben wir allerdings keinen Zusammenhang mehr zwischen der Dienstleistungs-Pastoral – das ist alles, was wir im Caritasbereich haben, aber auch in der Ritendiakonie bei Taufe, Trauung und Beerdigung – und der eigentlichen Gemeinde. Das heißt, ein Seelsorger lebt faktisch in zwei Gemeinden – in jener, mit der er selber lebt, und in der anderen, für die er arbeitet. Aber ich gestehe: Auch mir fällt diese Dienstleistungs-Pastoral schwer, weil sie häufig einer Einbahnstraße gleicht und wenig zurückkommt. Es entsteht kein Miteinander, keine Gemeinschaft.

Fühlen Sie sich manchmal missbraucht, wenn der Gottesdienst kaum mehr ist als ein privates Weihnachts-Familien-Ritual?

Ich fühle mich gebraucht, aber nicht missbraucht. Ich finde es gar nicht schlimm, Teil eines Rituals zu sein. Diese Rituale helfen ja beim Leben. Die Menschen sind heute nicht religiöser als früher, aber die Welt war früher religiöser, voller Geläufigkeiten und feststehender Rituale. Wobei ich schon feststelle: Die meisten Menschen suchen sich ihren Weihnachtsgottesdienst nicht nach angebotenen Formen, sondern nach der Uhrzeit aus.

Ist das nicht extrem ernüchternd?

Ja, das ist extrem ernüchternd. Ich finde immer weniger Menschen, mit denen ich glauben kann, sondern begegne immer mehr Menschen, für die ich glauben soll. Das ist anstrengend, weil man sich als Priester heute weniger getragen fühlt. Aber ich will nicht darüber lamentieren, dass alles angeblich schlimmer wird. Es wird nur anders.

Wie erklären Sie der 17-Uhr-Gemeinde Weihnachten?

Im Grunde stellt Gott an Weihnachten die gesamte Religionsgeschichte auf den Kopf. Religion im archaischen Sinn besteht ja darin, dass der Mensch sich aufmacht zu Gott. An Weihnachten macht sich Gott auf zum Menschen. Die ewig lange, vergebliche und mitunter auch grausame Suche nach Gott hat endlich ein Ende, indem Gott Mensch wird. Näher kann er mir nicht kommen. Das ist seine Selbstoffenbarung. Denn ich kann mir nicht ausdenken, dass ein Gott Mensch wird. Das muss mir geschenkt werden.

Pfarrer Stefan Jürgens: „ Ich finde es gar nicht schlimm, Teil eines Rituals zu sein.“ | Foto: Markus NoltePfarrer Stefan Jürgens: „ Ich finde es gar nicht schlimm, Teil eines Rituals zu sein.“ | Foto: Markus Nolte

„Selbstoffenbarung“ klingt aber sehr „kirchisch“ ...

Das ist ein bisschen „kirchisch“, stimmt. Das Wort „Selbstoffenbarung“ würde ich wohl nicht einmal in der 22-Uhr-Christmette verwenden. Erwischt ...

Neuer Versuch für die 17-Uhr-Gemeinde ...

Ich würde vielleicht dies sagen: Gott ist menschlich nah. Er zeigt uns sein Gesicht. Er geht mit uns auf Augenhöhe. Wir müssen Gott nicht suchen, er findet uns. Wenn Gott sich aufmacht zu mir, muss ich mich nicht mehr aufmachen zu ihm. Sondern ich kann genau das tun, was er tut: Ich kann mich auch menschlich zeigen, auch zu den Menschen gehen, auch mein Gesicht zeigen, auch mit anderen auf Augenhöhe sprechen.

Worauf freuen Sie sich an diesem Weihnachtsfest besonders?

Ich freue mich auf die Zeit zwischen und nach den Gottesdiensten, wenn ich darüber nachdenke, was eben geschehen ist. Da erfüllt mich das Gefühl: Ich durfte so vielen Menschen Gott verkünden! Trotz aller Kirchenkrise und Glaubenskrise ist eine riesengroße Sehnsucht da ... Und die kann man aufgreifen. Dann merke ich: Es ist ein sehr schöner Dienst, den wir da tun dürfen.

Glauben Sie, dass Weihnachten durch die wahnwitzige Welt, die sich in diesem Jahr zwischen Terror und EU-Krise gezeigt hat, anders sein wird?

Man meint, es gäbe eine Welt über der Welt, und da wohnte Gott, und an Weihnachten fliehen wir ein bisschen in diese jenseitige Welt, in schöne Gefühle, um dieser ganz und gar diesseitigen Welt zu entgehen. Aber besonders in diesem Jahr wird an Weihnachten deutlich: Gott ist genau in diese konkrete Welt hineingekommen, er wird geradezu diesseitig, weltlich; er interessiert sich für seine Welt, er will im Wortsinn „dazwischen“ sein. Wo wir in die Welt gehen, tun wir das, was Gott will und was Gott getan hat.

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