Themenwoche „Menschen, die uns Hoffnung schenken“ (4) - aus Vechta

Familie auf Zeit: Wenn das Jugendamt eingreift, kommen sie ins Spiel

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Sie nehmen Kinder bei sich zu Hause auf, die manchmal plötzlich aus ihren Familien heraus „in Obhut“ genommen werden müssen. Auch über Weihnachten kümmern sich Sylvia und Andreas Diers aus Vechta um einen Dreijährigen. Ohne Ersatzeltern wie sie müsste er wohl in ein Kinderheim.

Ende November war Andreas Diers morgens drei Stunden mit Paul (Name geändert) beim Arzt. Der Kindergarten hatte angerufen, weil der Junge so hustete. Den Nachmittag verbrachte der 58-Jährige dann mit dem Dreijährigen auf dem Sofa. „Irgendwann ist er eingeschlafen.“ Andreas Diers lächelt. „So etwas gehört eben auch dazu“, genau wie das Schreien.

„Es kann auch manchmal ganz schön anstrengend sein.“ Seine Frau Sylvia nickt. „Wenn Paul mal wieder die Kontrolle verliert. Er ist dann wie ein Vulkan.“ Aber die beiden kennen das mittlerweile. Sie wissen, dass der Junge sich nach einiger Zeit auch wieder beruhigt.

Paul ist ihr viertes Gastkind

In unserer Themenwoche „Menschen, die uns Hoffnung schenken“ stellen wir Leute vor, die durch ihr Handeln Vorbild für andere sein können. Dabei geht es um freiwillig Engagierte, Hauptamtliche oder Menschen, die sich immer wieder aufrichten. In Folge 4 stellen wir Sylvia und Andreas Diers vor.

Außerdem gebe es ja auch die andere Seite, die schönen Momente mit Paul. „Der Junge ist ja im Grunde ein Sonnenschein“, sagt Andreas Diers. „Er kann unwahrscheinlich nett sein, und da hat man seine kurzen Aussetzer ganz schnell wieder vergessen.“

Paul ist schon das vierte Kind, das die beiden vorübergehend bei sich aufgenommen haben, als Ersatzeltern auf Zeit. „Bereitschaftspflege“ heißt das Angebot, das im Landkreis Vechta der Sozialdienst katholischer Frauen (SKF) organisiert. Sylvia Diers, eine ausgebildete Erzieherin, hatte vor drei Jahren davon gehört und sich informiert. Als sie ihren Mann fragte: „Wäre das nicht etwas für uns?“, war der sofort einverstanden.

Die genauen Schicksale sind unbekannt

Seit ihre erwachsenen Kinder ausgezogen sind, haben sie in ihrem Haus in Vechta genug Platz, der Pensionär hat Zeit. Und, fremde Menschen bei sich einzuquartieren – das war für die Familie nichts Ungewöhnliches. Eine Austauschschülerin hat für ein Jahr bei ihnen gelebt, immer mal wieder sind amerikanische Studenten für ein paar Wochen zu Gast und zuletzt für drei Monate eine Frau, die aus der Ukraine geflüchtet war.

Doch die Diers wissen, dass Kinder der Bereitschaftspflege eine besondere Herausforderung sein können. Auch wenn sie deren Schicksale nicht genau kennen, ist ihnen klar: Die meisten wurden nicht ohne triftigen Grund zu ihrem Schutz aus ihrer Familie geholt. Über Paul wissen sie nur, dass er seinen Eltern schon mit anderthalb Jahren zum ersten Mal eine Zeit lang weggenommen wurde.

Gutachten entscheidet über Zukunft

Eine kleine Stofffigur, das „Wutmonster“
Eine kleine Stofffigur, das „Wutmonster“ soll Paul helfen, seine Aggressionen abzubauen. | Foto: Michael Rottmann

Als der Junge kürzlich bei einem seiner Wutanfälle versucht hat, seine Pflegemutter zu schlagen, wies Andreas Diers ihn zurecht: „So etwas machen wir hier nicht!“ Paul antwortete nur: „Wieso? Das macht Papa mit Mama doch auch!“ Der Pflegevater zuckt mit den Schultern. Gedacht hatte er sich so etwas schon.

Seit Mai ist der Junge da, so lange wie vor ihm noch kein anderes Kind. „Wie lange er bleibt, wissen wir nicht“, sagt Sylvia Diers. „Vielleicht bis ins Frühjahr, vielleicht auch länger.“ Es kommt auf das Gutachten an.

Muss man sich das mit fast 60 noch antun?

Vor fünf Wochen war eine Frau vom Amtsgericht da. „Sie hat versucht, mit Paul zu sprechen und anschließend mit uns telefoniert.“ Sie will feststellen, ob es überhaupt möglich ist, dass er und seine Geschwister zurück in ihre Ursprungsfamilie kommen. Am Ende entscheidet ein Richter. „Und bis alles geklärt ist, bleibt der Junge bei uns“, sagt Andreas Diers.

Eltern sein für einen Dreijährigen – muss man sich das mit fast 60 Jahren noch antun? „Das fragt man sich öfter“, meint der Pflegevater. Aber sein Lächeln zeigt, dass er solche Zweifel nicht wirklich ernst meint. „Es gibt ja viele Dinge im Leben, die schwierig sind und die man dennoch macht“, ergänzt seine Frau.

Paul ist Teil der Familie auf Zeit

Dabei hilft es, dass ihre drei eigenen Kinder voll hinter dem Einsatz der Eltern stehen. Ab und zu passen sie abends auf Paul auf oder holen ihn zum Spazierengehen mit dem Hund ab. Auch an Weihnachten gehört er zur Familie, mit Geschenken und allem. Vielleicht bringen auch Pauls leibliche Großeltern etwas vorbei. „Ob von den Eltern etwas kommt, weiß ich nicht“, sagt Andreas Diers. Einmal in der Woche trifft er sie, während Kontaktstunden mit Paul und seinen Geschwistern.

„Wir sind eine Art Puffer für die Kinder“, sagt Sylvia Diers. „Damit sie einen Ort auf Zeit haben, wo sie sicher sind und zur Ruhe kommen können. Und wo wir sie in ihrer Entwicklung unterstützen und ihnen zeigen: Familienleben muss nicht schlimm sein. Es geht auch anders.“

Schöne Momente überwiegen

Eva Espelage
Eva Espelage ist beim SKF in Vechta zuständig für Bereitschaftspflege. | Foto: Michael Rottmann

„Geduld und Ausdauer“ nennen die beiden als Eigenschaften, die für so eine Aufgabe wichtig sind. Weil man immer wieder auch mit Schwierigkeiten umgehen müsse. Etwa, wenn Paul mal wieder auffordernd auf den Boden stampft.

Aber beide sind sich einig: Die schönen Momente überwiegen. „Zum Beispiel, wenn wir spüren, dass Paul etwas mitnimmt aus der Zeit bei uns. Wenn er lieb und zuvorkommend ist, Bitte und Danke sagt. Was er vorher nicht konnte.“ Bei den Diers ist er auch „trocken“ geworden und hat Radfahren gelernt.

Denken sie manchmal an den unvermeidlichen Abschied? „Das wird sicher schwer“, sagt Andreas Diers. „Auch, wenn man natürlich weiß, dass es eine Aufgabe auf Zeit ist.“ Er denkt an den Jungen, der vor Paul bei ihnen war. „Er war nur drei Wochen bei uns. Es war ganz schwierig mit ihm. Aber am Ende standen uns die Tränen in den Augen.“

Die Vechtaer SKF-Expertin Eva Espelage sucht Menschen, die helfen wollen
Einmal klingelte nachts um drei Uhr ihr Telefon. Eine Mitarbeiterin vom Allgemeinen Sozialen Dienstes des Landkreises Vechta war gerade auf dem Weg in eine Familie. „Ob ich für den Fall einer Inobhutnahme eine Lösung hätte?“ In solchen Fällen muss Eva Espelage schnell handeln. Und klären, ob eines der Paare in der Bereitschaftspflege-Kartei des Sozialdienstes katholischer Frauen (SKF) in Vechta bereit wäre, kurzfristig jemanden aufzunehmen.
Manchmal bleibt wenig Zeit. In seltenen Notfällen ist die Sozialpädagogin auch mal nachts gefordert. Der Grund ist dann meist „akute Kindswohlgefährdung“. Insgesamt 28.500 solcher Fälle weist die Statistik von 2021 für Deutschland aus. Hinzu kamen 11.300 Inobhutnahmen unbegleitet eingereister Jugendlicher und 7.700 Fälle, in denen Erziehungsberechtigte selbst um Hilfe gebeten hatten.
Überforderte Eltern (53 Prozent), Vernachlässigung (26 Prozent), körperliche oder psychische Misshandlung (30 Prozent) sind bei den unter 14 Jahre alten Kindern die Hauptgründe für die Herausnahme von Kindern aus ihrer Familie.
Seit 25 Jahren ist Eva Espelage beim Vechtaer SKF dafür zuständig, dass diese Kinder übergangsweise einen Platz in einer Familie finden, im Rahmen sogenannter Bereitschaftspflege. Bei der nehmen Paare oder Familien ein Kind für ein paar Tage, Wochen oder Monate bei sich auf. Sieben solcher Pflegestellen im Landkreis Vechta hat die Sozialpädagogin derzeit in ihrer Kartei.
„Wie andernorts auch zu wenige“, wie sie aus Gesprächen mit Kolleginnen und Kolleginnen weiß, aber immerhin. „Wenn wir diese Familien nicht hätten, müssten manche Kinder, auch sehr kleine, in eine Heimeinrichtung. Deshalb sind diese Familien so wichtig.“ Der SKF ist ständig auf der Suche nach Bereitschaftspflege-Eltern, bereitet sie vor und begleitet sie.
Und wer kommt dafür infrage? „Wir machen es von den Personen abhängig“, sagt Eva Espelage. Das Alter spiele keine so große Rolle. Eher, dass Paare es gesundheitlich leisten könnten, und finanziell unabhängig davon seien. „Schwierig wird es aber, wenn jemand die Bereitschaftspflege übernimmt, weil es ihm um einen Hinzuverdienst geht“, sagt die SKF-Frau. Bei diesem Dienst handele es sich eher um ein Ehrenamt. (miro)

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