KIRCHE+LEBEN EXKLUSIV

Großes Geburtstagsinterview mit Felix Genn: Ich denke, es ist jetzt gut

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Sehr persönliche Einblicke von Münsters Bischof: seine Sorgen und Hoffnungen – und sein größter Horror, wenn er an seinen 75. Geburtstag denkt.

Herr Bischof, zu Ihrem 75. Geburtstag am 6. März - oder doch in der Zeit drumherum - hoffen Sie auch auf die Annahme Ihres Rücktrittsgesuchs durch Papst Franziskus. Wie leicht wird Ihnen das Aufhören fallen?

Ganz leicht! Ganz leicht!

Wie kommt das?

Ich bin 75, ich spüre die Grenzen des Alters, und ich denke, es ist jetzt gut. Ich weiß nicht, ob ich dieser Aufgabe noch so gerecht würde, wenn ich weiter machte in dieser großen Diözese mit der Verantwortung und all den Zusatzaufgaben, die ich noch im Rahmen der Bischofskonferenz habe, aber auch in der universalen Kirche.

„Auf-hören“ ist ein doppelklingendes Wort des Soziologen Hartmut Rosa, mit dem Sie vor zwei Jahren beim Neujahrsempfang des Katholischen Büros in Düsseldorf vor allem Politikerinnen und Politikern ermutigt haben, „das Hamsterrad, in dem wir uns ständig drehen und bewegen, anzuhalten“, um im Innehalten offene Ohren für das zu bekommen, worauf es im Moment ankommt. Was hören Sie da, jetzt in der Zeit Ihres Aufhörens, besonders? Was bewegt Sie in der Welt, aber auch in der Kirche?

In der Kirche ist durch die Weltsynode eine gewisse Beruhigung eingetreten. Zu klären ist nun: Wie geht es weiter mit den aufgerissenen Fragestellungen und Problemen? Aber in der Welt sieht es furchtbar aus! Je länger ich darüber nachdenke, desto drängender frage ich mich, was für eine Verantwortung ein Mann wie Putin auf sich genommen hat, einfach einen Krieg anzufangen – wissend, dass dabei viele Menschen sterben, dass dabei unendlich viel Geld verpulvert wird für Waffen, die Menschen zerstören. Und wir diskutieren in unserem Land, ob man der Ukraine noch weiter helfen soll – ohne daran zu denken, dass dort  ein gutes Stück Freiheitsgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende geht. Das macht mir große Sorge – weit mehr als das, was es in der Kirche an Veränderungen gibt.

In Ihrer letzten Silvesterpredigt haben Sie geradezu leidenschaftlich appelliert, tiefer hinzuschauen und sich nicht mit der Oberflächlichkeit der Diskussionen und des Geredes in Kirche, Politik, Medien und Gesellschaft zu begnügen. Das Tiefste der Seele, das Innerste, davon sprechen Sie immer wieder in großer Achtsamkeit. Wie sehr zerreißt Sie unsere Zeit?

Wir stehen ja alle in dieser Situation. Ich versuche, aufmerksam zuzuhören – und das ist durchaus zerreißend. Das gilt es zunächst einmal schlichtweg anzunehmen. Ein Beispiel: Wenn ich sehe, was von Politikern einer Partei an Parolen ausgegeben wird, die bei den Bundestagswahlen wohl deutlich hinzugewinnen wird, dann zerreißt mich das auch deshalb, weil zu meiner Biographie unbedingt dazugehört, dass so etwas nie wieder passieren darf. Aber es geschieht wieder. Schlimm ist auch: Da wird zum Teil sogar unter dem Anschein von christlichem Gedankengut etwas forciert, das höchst gefährlich ist. Das zerreißt mich wie gesagt weit mehr, als alles, was wir in unserer Kirche, in unserem Bistum an Zerrissenheiten, Spaltungen und Konfliktherden haben, die es zweifellos auch gibt.

Wie hilft Ihnen dann in dieser Zerrissenheit Ihre Gottverbundenheit?

Das beschäftigt mich sehr, weil es meinen Verkündigungsauftrag als Bischof angeht. Wie soll ich den Menschen angesichts dieses Problembergs etwas von der Botschaft des Glaubens vermitteln? Mir hilft, dass die ersten Christinnen und Christen in einer sicher noch viel größeren Not einfach ihrem Glauben treu geblieben sind, weil sie darauf setzten, dass der Auferstandene ein Faktum ist.

In Ihrer Amtszeit gab es im Bistum Münster immer wieder Anlass für große Feste: ob die Weihe von gleich drei Weihbischöfen 2010 – nur ein Jahr nach Ihrem Amtsantritt – und eines weiteren 2011, ob das Domjubiläum 2014 oder der Katholikentag 2018. Was „feiern“ Sie am Bistum Münster, wie man heute sagt – anders formuliert: Wie ist Münster „Ihr“ Bistum geworden?

Das ist insbesondere dadurch gelungen, dass es im Bistum Münster sehr viele Menschen gibt, die mich in der Wahrnehmung bestärkt haben: Es lohnt sich, für sie da zu sein und mit ihnen zu glauben und zu arbeiten.

2010 war, nach ihrem ersten Jahr in Münster, auch das Jahr des Missbrauchsskandals in Deutschland. Wie hat Sie das Leid der Betroffenen, wie hat diese Erschütterung Sie verändert?

Das werden wahrscheinlich andere besser beurteilen können. Vielleicht so viel: Weil ich versucht habe, mich in die Situation betroffener Menschen hineinzufühlen und nicht nur hineinzudenken, habe ich gespürt, welch eine Verwundung das in erster Linie für die Betroffenen ist und welche Verwundung es auch für das Innerste der Kirche und ihrer Sendung darstellt. Wir müssen uns davor hüten, einen Haken hinter das Thema des sexuellen Missbrauchs zu machen. Im Gegenteil muss deutlich werden: Wir werden sexuellen Missbrauch in unserer Kirche weiter mit allen Mitteln bekämpfen und zu verhindern versuchen. Und: Wir wollen etwas verändern in unserem Stil, in unserer Art und Weise zu verkündigen, in unserem Erlernen größerer Empathie für den je einzelnen Menschen. Das ist das Wichtigste und das ist und bleibt eine Herausforderung für uns alle.

Der Synodale Weg ist eine Konsequenz aus der MHG-Missbrauchsstudie. Sie haben mehrfach betont, wie wichtig dieser Zusammenhang und wie wichtig dieser geistliche Weg ist. Zudem prägt Papst Franziskus mit seiner Forderung nach und Förderung von Synodalität etwa in der jüngsten Weltsynode auch Ihre Amtszeit. Nicht zuletzt haben Sie selber das Synodalprinzip im Bistum Münster stark gemacht. Wie hat sich Ihr Kirchenbild in den letzten Jahren entwickelt?

Die Erfahrung der Jugendsynode 2018 – also vor dem Synodalen Weg – war für mich sehr prägend. Sie hat mich ermutigt zu überlegen, ob diese Form von Synodalität auch für Deutschland möglich sein kann. Es ging bei der Jugendsynode vor allem darum, durch gegenseitiges Zuhören die Situation der Jugend in der Kirche wahrzunehmen. In dieser Form haben wir das beim Synodalen Weg nicht getan, und es ist notwendig, das zu reflektieren. Im Synodalen Ausschuss und in der Bischofskonferenz wird es durchaus auch getan. Wir sind in einer Schule der Synodalität. Wir müssen uns die Methode des Gesprächs im Heiligen Geist wirklich zu eigen machen und als Haltung einüben. Ich durfte das acht Wochen lang bei der Weltsynode tun.

Wie weit ist das Bistum Münster in Sachen Synodalität?

Im Bistum Münster sind wir hier auf einem guten Weg, weil es eine echte Offenheit dafür gibt. Synodale Formen gab es zudem immer schon in unserem Bistum, die freilich weiterzuentwickeln waren und sind. Auch der Pastoralplan für unserer Bistum hat sich durch Mithilfe geistlicher Elemente ausgeformt. Meines Erachtens ist er die Frucht eines synodalen Bemühens.

Aus Ihren Predigten spricht immer wieder ein großes Werben dafür, diesem immer auch geheimnisvollen Gott zu vertrauen, mit ihm und aus dem Glauben an ihn zu leben – und zwar trotz und in aller Gebrochenheit unserer Welt und unseres Lebens. Wie gehen Sie damit um, dass immer mehr Menschen meinen, ohne Gott gut leben zu können?

Ich erlebe solche Menschen auch in meinem persönlichen Umfeld. Wenn ich solchen Menschen begegne, leitet mich vor allem die Haltung, niemandem etwas aufzudrücken. Mit der wunderbaren Wirklichkeit Gottes kann man keinen Zwang ausüben, die kann man nur versuchen vorzuleben, sodass Menschen möglicherweise fragen: Aus welcher Quelle lebt er? Und zugleich muss ich damit rechnen, dass sie nicht einmal das fragen. Natürlich wünsche ich mir, dass diese Kostbarkeit entdeckt wird, aber ich gestehe mir auch meine Ohnmacht ein. Darum ist für mich das fürbittende Gebet eine wichtige Hilfe, um das abzugeben.

Im Übrigen glaube ich, dass die Geschichte immer wieder Aufbrüche zeigt, weil Menschen von der Existenz Gottes angerührt waren und das weitergegeben haben. Es ist eine große Herausforderung für die Pastoral, sich von dieser Zuversicht leiten zu lassen und nicht aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus zu agieren und zu versuchen, dies oder das  ‚machen‘ zu müssen.

Sie kamen 2009 aus Essen mit dem Ruf, dort viele Kirchen geschlossen und die Pfarrstrukturen massiv zusammengestrichen zu haben. Im Bistum Münster gab es 2009 zwar schon fusionierte Pfarreien, gleichwohl haben Sie die Reform hin zu Pastoralen Räumen auf den Weg gebracht. Wie sehen Sie das Bistum Münster heute für die Zukunft aufgestellt?

Ich möchte nicht bilanzieren. Ich weiß nur, dass es für eine Leitungsperson wichtig ist zu schauen: Was du jetzt entscheidest – lässt dich das in einem inneren Frieden sein oder spürst du: Halt, hier hast du eine Fehlentscheidung getroffen? Ich kann sagen: Letzteres ist im Blick auf die grundlegenden Weichenstellungen, die ich vorgenommen habe, bei mir nicht der Fall. Ob das, was ich entschieden habe, auf Dauer richtig sein wird, wird sich erweisen. Zur Aufgabe eines Bischofs gehört auch die Bereitschaft zu Versuch und Irrtum. Ich halte es angesichts der vorhandenen finanziellen und personellen Ressourcen für verantwortlich, es so zu versuchen, wie wir es jetzt tun. Und so kann ich alles gut und beruhigt in andere Hände geben. Aber wie das, was wir angestoßen haben, mit Leben und Glauben gefüllt werden kann, ist eine große Frage und eine große Herausforderung für die Zukunft.

Sie waren viele Jahre für das große Themenfeld der geistlichen Berufe in Deutschland zuständig, die Aus- und Fortbildung gerade von Priestern ist Ihnen ein großes Anliegen, und doch konnten Sie in den letzten beiden Jahren keinen Priester für unser Bistum weihen. Die Gründe sind sicherlich vielfältig, aber könnten Sie sagen, was es bräuchte, damit sich wieder mehr Menschen für diese Berufung öffnen?

Wenn Menschen Gott nicht fehlt, kann keine Berufung wachsen. Aber es gab im Lauf der Geschichte immer wieder Überraschungsmomente. Die meisten heutigen Priester und Ordensleute sind nicht von einem hellen Licht getroffen worden und zu Boden gestürzt. Das wird es zwar weiterhin geben, aber darauf kann man nicht setzen, weil man das nicht ‚machen‘ kann. Wenn aber Menschen Feuer und Flamme werden für die Wirklichkeit Christi, dann kann es sein, dass sie das zu der Frage führt: Soll ich das nicht zu meinem Lebensprojekt machen, weil es der Sinn meines Lebens ist, diesen Weg zu gehen? Mehr kann man nicht tun, außer den Boden hierfür zu bereiten.

Welche Chance sehen Sie für viri probati, also für die Priesterweihe von sogenannten bewährten, verheirateten Männern – und welche für Frauen im geweihten Amt?

Da kommen wir an die Oberfläche der Diskussionen. Hier müssen wir schauen, wie sich die Überlegungen auf weltkirchlicher Ebene entwickeln. Wenn da oder dort eine Flamme angeht und sich in einem weltkirchlichen Prozess neue Dimensionen auftun, wird man sich man damit befassen. Die Weltsynode hat mich gelehrt: Man kann nichts erzwingen.

Vieles in unserer Zeit, das sagen Sie auch ganz offen, macht Ihnen Sorge – ganz offensichtlich mit gutem Grund. Was gibt Ihnen Hoffnung?

Der Auferstandene. Er ist ja da!

Warum konkret erfüllt Sie das mit Hoffnung?

Weil der Auferstandene grenzenlos ist. Er hat alle Grenzen des Todes überwunden. Darum brauche ich keine Angst zu haben. Auch nicht im Alltag. Denn Todesgrenzen gibt es nicht nur am Ende des Lebens, sondern auch da, wo ich spüre: Hier geht es nicht weiter.

Sie haben im vergangenen Jahr auf den 25. Jahrestag Ihrer Bischofsweihe zurückschauen können – und vor nicht allzu langer Zeit in einem Kirche+Leben-Interview von einer „Krise des Bischofsamtes“ gesprochen. Zugleich sind Sie Mitglied des Bischofs-Dikasteriums im Vatikan und arbeiten auf Bitten des Papstes maßgeblich in einer Studiengruppe mit, die sich verschiedenen Fragen des Bischofsamts widmet. Was ist Ihnen an der zukünftigen Gestalt des Bischofsamtes, besonders wichtig?

Es kann keine synodale Kirche ohne synodale Bischöfe geben. Das ist der Kernsatz. Auch Bischöfe müssen lernen, synodal zu leben und zu arbeiten. Darum ist ein Thema sowohl der Synode als auch der Arbeitsgruppe, die Sie erwähnen: Wie sieht eine Formatio, also eine Formung der Bischöfe in Synodalität, aus, damit Autorität auch durch und in einer Haltung der Synodalität ausgeübt wird? Das Synodale ist umfassender als die hierarchische Autorität. Man kann nicht meinen: Jetzt bin ich Bischof und mache alles top-down, von oben nach unten. Das darf man aber auch als Gläubiger nicht mehr erwarten! Ich erlebe bis zur Stunde, dass Menschen sagen: „Sie sind doch Bischof, Sie können das doch einfach bestimmen! Als Bischof können Sie doch durchregieren!“ Das ist eine Mentalitätsfrage auch des gläubigen Gottesvolkes, die natürlich genährt wurde, weil wir Bischöfe uns entsprechend verhalten haben. Genau darin liegt die Krise.

Wie wird sich Ihr Engagement im Vatikan nach Ihrer Emeritierung als Bischof von Münster gestalten?

Weiter geht’s! Das ist so abgesprochen: Ich habe den Auftrag, im Dikasterium der Bischöfe und auch in der besagten Arbeitsgruppe weiterzuarbeiten. Bis Juni soll es von der Arbeitsgruppe eine Vorlage geben, auf deren Grundlage der Papst etwas zu diesen Fragen sagen kann. Ob und wenn ja in welcher Form nach dem Juni zu dieser Frage von wem weitergearbeitet wird, wird sich dann entscheiden. Für das Dikasterium bin ich im vorigen Jahr noch einmal für fünf Jahre ernannt worden.

Zum Schluss fünf kurze Fragen: Was lässt Sie gut gehen?

Weil ich glaube, dass hier gute Leute sind, die die Leitung des Bistums fortführen können – in jeder Hinsicht.

Sie waren und sind Ihrer Heimat in der Eifel immer tief verbunden. Aber Sie wollen doch in Münster bleiben. Was hat Sie dazu bewogen?

Weil ich hier jetzt meinen Lebensmittelpunkt gefunden habe.

Werden Sie weiterhin auch Pontifikalämter, also Bischof-Gottesdienste im Dom oder in den Gemeinden feiern?

Das muss man sehen. Ich will nichts tun ohne Absprache mit dem künftigen Diözesanadministrator und dann mit dem neuen Bischof.

Was wird Sie weiter ganz besonders interessieren?

Theologie.

Worauf freuen Sie sich?

Ich antworte, indem ich Sie bitte, mich zu fragen, wovor ich den größten Horror habe, wenn ich an meinen 75. Geburtstag und meinen Abschied denke. Wollen Sie mich das bitte fragen?

Gern, doch: Wovor haben Sie den größten Horror mit Blick auf Ihren Abschied?

Zu viele Geschenke! Ich will nichts mehr, ich habe zu viel! Ich habe genug Bücher, ich habe genug Bilder, ich habe genug Nippes, und ich habe genug Wein. Ich brauche nichts! Ich habe einen Horror vor Bergen von Geschenken! Das ist sicher alles gut gemeint, aber ich muss mich schon jetzt von allem möglichen trennen. Es muss nichts sein, bitte!

Lieber Herr Bischof, vielen Dank für dieses Gespräch und das Vertrauen der letzten Jahre als Herausgeber von Kirche+Leben! Wir wünschen Ihnen Gottes Segen zu Ihrem Geburtstag – und demnächst auch für Ihren Ruhestand!

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