Zeitzeuge Theo Nettels erinnert sich zum 75. Todestag des Münsteraner Bischofs

Im Keller Galens Predigten gedruckt - draußen stand die Gestapo

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Nicht mehr viele Menschen leben, die den vor 75 Jahren verstorbenen Bischof Clemens August von Galen persönlich erlebt haben. Theo Nettels ist einer von ihnen, Warum Galen oft zu Besuch im Keller der Familie war - und wo die Druckmaschine zur Vervielfältigung der Predigten verborgen war, hat er uns erzählt.

Der Esstisch ist voller Erinnerungen. Zigarrenkisten mit Fotos, Klarsichthüllen mit alten Briefen, Ordner mit Zeitungsartikeln. Zwischen den Dingen, die Theo Nettels in die Hand nimmt, und heute liegen Jahrzehnte. Eine Zeitspanne, in der die Welt eine völlig andere geworden ist. Als kleiner Junge erlebte er seine Heimatstadt Münster unter dem Druck des nationalsozialistischen Regimes und im Krieg. Heute lebt er dort mit seiner Frau als lebensfroher Rentner in seiner Wohnung und genießt es, ab und zu noch im Hinterhof vorbeizuschauen, wo die Werkstatt seines Kunsthandels steht, den er an seinen Sohn weitergegeben hat.

Für den 92-Jährigen gibt es jemanden, der über alle die Jahre eine wichtige Konstante in seinem Leben geblieben ist: „Der große, starke, unbeugsame Mann.“ Nettels spricht vom seligen Kardinal Graf von Galen.

 

Galen besuchte den Keller der Familie

 

Der damalige Bischof von Münster nahm von Kindesbeinen einen Platz im Leben des Münsteraners ein. Zwangsläufig, denn sein Vater war ein überzeugter Nazi-Gegner. Und in seinem Kunsthandel in der Innenstadt gab es einen besonderen Raum, in der diese Gesinnung Platz hatte.

„Im Keller trafen sich diejenigen, die genauso dachten wie mein Vater“, erinnert sich Nettels. Und dazu gehörten nicht selten auch der spätere Kardinal und sein Kaplan Heinrich Portmann.

 

Der kleine Theo fühlte die konspirative Atmosphäre

 

Nettels faltet behutsam einen vergilbten Brief auseinander, der das belegt: „…in treuer Verbundenheit und Gedenken an Stunden gemeinsamer Freude und Gefahr…“ steht dort. Gezeichnet von Portmann im Jahr 1946. Denn das, was sich in jenem Keller abspielte, reichte im damaligen Regime schnell zum Todesurteil.

„Wir Kinder konnten noch nicht wissen, welche Bedeutung die Treffen hatten.“ Wohl aber erahnen. Denn das Konspirative war spürbar, wenn Kunden mit einem kurzen Gruß den Laden durchquerten und die Treppe hinabstiegen oder heimlich durch den Hintereingang hereinkamen.

 

Noch ein Bischof zu Besuch

 

„Vater und Mutter haben versucht, vieles davon fern von uns zu halten.“ Die kindliche Aufmerksamkeit aber nahm die Dinge wahr, die ungewöhnlich waren. Das meiste davon klärte sich für ihn und seine acht Geschwister erst später auf, im Rückblick.

Etwa der Besuch des damaligen Bischofs von Osnabrück, Wilhelm Berning, der im Keller den Kardinal traf. „Du kommst also erst hierher, bevor du zu mir ins Bischofshaus kommst“, empfing ihn Bischof von Galen, der bereits Platz genommen hatte.

 

Druckmaschine unter Teppich und Bohlen versteckt

 

Buchtipp:
Endlich hat einer den Mut zu sprechen
Clemens August von Galen und die Predigten vom Sommer 1941 – kommentiert und illustriert
9,80 € | 152 Seiten | dialogverlag 2013
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„Es muss immer um den Protest gegen das nationalsozialistische Regime gegangen sein“, sagt Nettels. Wer in dem Kunsthandel an der Salzstraße die Treppe hinabstieg, tat es mit dem Ziel, sich mit seiner Meinung dem Denunziantentum der Nazi-Zeit zu entziehen.

Als dort unter Ladentheke, Teppich und Bohlen eine Druckmaschine versenkt wurde, wurde daraus mehr. „Wenn das Geschäft geschlossen war, wurde die Rotations-Maschine herausgehoben.“ Nettels macht mit seinen Händen kreisende Bewegungen. „Meine Schwester haben stundenlang die Predigten vom Kardinal gedruckt.“

Sie und ihr Vater verteilten sie auch. „Nachts, unter dem Mantel – überall, wo sie herkamen, ließen sie die Blätter zurück – selbst auf der Toilette der Kneipe“, erinnert sich Nettels. Welcher Gefahr sie sich damals aussetzten, war seinen Schwestern nicht bewusst. Der Vater ging mutig voran. „Nur meine Mutter war immer sehr ängstlich und vorsichtig.“

 

Vater zeigte offen seinen Protest

 

Nettels lässt die Familienbilder durch die Finger gleiten. Die seiner zwei im Krieg gefallenen Brüder, das seiner Mutter in Kreis ihrer fünf Töchter und das des ernst dreinschauenden Vaters. „Er konnte streng sein, war aber immer gütig.“

Und er war ein überzeugter Christ. Sein Glaube war Auftrag, sich gegen das Unrecht der damaligen Zeit aufzulehnen. „Durchaus auch öffentlich“, sagt Nettels. „Keines von uns Kindern durfte zur Hitlerjugend oder zum Bund Deutscher Mädchen.“

 

Die Gestapo beobachtete die Familie

 

Viele fragten später, wie das möglich gewesen sei. „Er hatte viele Freunde, auch an wichtigen Positionen in den Behörden.“ So erreichten die Familie manche hilfreiche Information ausreichend früh. Selbst die „Männer mit den großen Hüten und den langen grauen Mänteln“ bekamen dadurch nichts Belastendes in ihre Hände, sagt Nettels.

„Die Gestapo stand oft stundenlang auf der gegenüberliegenden Seite des Ladens und beobachtete uns.“ Wie sehr sie auf ihrer Liste standen, erfuhren sie auch nach dem Bombenangriff auf Münster, bei dem das Geschäft zerstört wurde. „Aus den Trümmern zogen sie einen Mann der geheimen Staatspolizei, der nicht in den Luftschutzbunker gegangen war, sondern die Chance nutzen wollte, herumzuschnüffeln.“

 

Die wirkliche Größe des Kardinals erkannte er später

 

Welch große historische Figur sich bei all diesen Ereignissen im Dunstkreis seiner Familie bewegte, wusste der heranwachsende Theo noch nicht. „Für mich war er ein Bischof und nur deswegen etwas Besonderes.“

Bei den Stadtprozessionen, die am geschmückten Altar vor dem Schaufenster der Kunsthandlunge vorbeiführten, wartete Nettels im besten Sonntagsanzug. „Ganz fromm, mit gefalteten Händen bin ich von ihm gesegnet worden.“ Zu Weihnachten brachte er ihm einmal eine Schachtel Zigarren als Geschenk seines Vaters. „Einen Blick auf ihn konnte ich kaum erhaschen, weil ich das Päckchen an der Tür abgeben musste.“

Selbst als er in den großen Menschenmassen nach der Rückkehr des Kardinals aus Rom oder bei dessen Beisetzung wenige Tage später stand, ahnte er noch nicht, welche Ausstrahlung von Galen mit seinen Taten in dieser Zeit entwickelt hatte. „Sein Widerstand war für mich eigentlich etwas Selbstverständliches“, sagt Nettels. Er kannte es von daheim nicht anders. „Unser Glauben verpflichtete uns dazu.“

 

Bruder mit geistiger Behinderung

 

Ein Gefühl, das ihm Tag für Tag vermittelt wurde. Besonders aber in eindeutigen Zeichen, die sein Vater setzte. „Mein jüngerer Bruder hatte eine geistige Behinderung, es war oft meine Aufgabe, mich um ihn zu kümmern.“

Als die Nationalsozialisten mit ihrem Euthanasie-Programm gegen das „unwerte Leben“ auch seine Existenz in Frage stellen, wurde sein Vater laut und deutlich. „Nein, niemals“, sagte er daheim in familiärer Runde, erinnert sich Nettels. „Und er setzte wieder alle Kontakte ein, um Schlimmes zu verhindern.“

 

Erst nach dem Krieg wurde die Größe deutlich

 

Nach und nach wurde Nettels als jungem Erwachsenen nach dem Krieg bewusst, dass eine solche Positionierung alles andere als selbstverständlich gewesen war. Auch das Handeln des Kardinals erschien dadurch in einem anderen Licht. „Erst in jener Zeit wurde er für mich zu dem großen, starken und unbeugsamen Mann, der er für mich geblieben ist.“

Wenn er auf dem Weg zur Arbeit in der von den Eltern übernommenen Kunsthandlung an der Grabkapelle des Kardinals im Paulusdom vorbeikam, spürte er das jeden Tag. Und wenn er haute an den Samstagen zum Wochenmarkt radelt, stellt er sein Rad immer noch mit diesem Gefühl in den Schatten des großen Denkmals vom „Löwen von Münster“ auf dem Domplatz.

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