GESCHICHTE

80 Jahre Kriegsende: Kierkegaards Denkzettel und Pastors bitteres Beispiel

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Wer erinnert sich noch an den Zweiten Weltkrieg? Und wer erinnert die Heutigen? Klaus Nelißen denkt an seinen Kindheitspastor – gespalten.

 

Meine nachhaltigste Unterrichtsstunde war, als wir vom Geschichte-Leistungskurs darauf kamen, den damals 86-jährigen Pastor Paul Wallrafen zu uns einzuladen, um vom Zweiten Weltkrieg zu erzählen. Er war in der Nazi-Zeit bereits Kaplan. Und Wallrafen erzählte von heimlichen Messfeiern in Scheunen, umzingelt von der HJ mit Fackeln in der Hand; vom Tod einer kompletten Ministrantengeneration in Dülken bei einer Panzerfaustübung. Unser Kurs war erschüttert und beeindruckt vom Zeugnis dieses Kirchenmanns. Am Ende gab er uns allen einen Zettel mit. Darauf ein Zitat von Sören Kierkegaard:

„Das glaube ich fest: so viel Verworrenes, Böses, Abscheuliches auch wohnen kann in den Menschen, wenn sie zum verantwortungs- und reuelosen Publikum, zur Menge und dergleichen werden, so viel Wahres und Gutes und Liebenswertes ist in ihnen, wenn man erreichen kann, dass sie Einzelne werden. Und was erst, wenn sie Einzelne vor Gott werden würden.“

Kierkegaards Denkzettel

Der Autor
Klaus Nelißen ist stellvertretender Rundfunkbeauftragter der NRW-Diözesen beim WDR. Der Pastoralreferent des Bistums Münster volontierte bei der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) und studierte Theologie in Münster und Berkeley, Kalifornien.

Mein ganzes Theologiestudium trug ich diesen Zettel in meinem Portemonnaie – so lange, bis er zerfiel. Kierkegaard hat mich seitdem begleitet – ich las seine „Einübung ins Christentum“ und seine „Krankheit zum Tode“.

Ich bin Pastor Wallrafen dankbar für Kierkegaards Denkzettel. Seine Mahnung gilt auch in diesen Tagen, 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie zeigt eine wichtige Ressource auf von Religion: Dass womöglich sehr wohl etwas fehlt, wo Gott fehlt, nämlich ein Referenzrahmen für verantwortungsvolle Individualität. Insofern sollten die Kirchen das nicht vorschnell aufgeben mit dem „Einüben ins Christentum“. Ernstes und drängendes Interesse an gelebter Menschlichkeit ist gefragt, an individueller Spiritualität.

„Krankheit zum Tode“

Und zugleich ist Kierkegaards Denkzettel eine bittere Mahnung dafür, wie sehr die Missbrauchstaten in der Kirche mitunter eine „Krankheit zum Tode“ sind. Nach seinem Tod wurden Vorwürfe auch gegen Pastor Wallrafen laut. Ich ringe mit mir, sein damaliges Zeugnis und auch das Zitat unter diesem Eindruck einzuordnen. 

Wenn ich heute lese, dass es darum geht, „Einzelne“ zu werden, weckt das in mir sofort den in Präventionsschulungen antrainierten Vorbehalt, dass diese Momente der Vereinzelung hoch riskant sind. Und ich ringe sehr mit mir, ob es sich bei diesem Motiv um eine Täterstrategie handelt – auch pastoral – oder eben doch um einen wichtigen existenziellen Schlüssel für den Zugang zum Glauben und zu einer Mit-Menschlichkeit, die das Totalitäre ablegt.

In unseren Gastkommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

 

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