GESELLSCHAFT

Einfache Antworten machen uns alle zu Zwergen

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Polarisierungen, wohin das Auge schaut. Höchste Zeit, sich wieder auf die Schultern eines Riesen zu stellen, sagt der Theologe Matthias Sellmann.

 

Man ist sich unsicher, von wem genau der Spruch kommt. Aber er trifft meiner Meinung nach wie ein Pfeil ins Schwarze unserer gegenwärtigen kulturellen Lage: „Wenn die Sonne des Geistes tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.“

Mir scheint, dass wir gut beraten sind, die Spitze dieses Spruches nicht abzuflachen. Und das gilt für uns alle. Denn der wird sofort zum Zwerg, der Größe nur von anderen fordert. Der Satz sensibilisiert darauf, sich in seinem Denk- und Urteilsverhalten gerade nicht am allgemeinen Standard zu orientieren, sondern unabhängig zu bleiben. Selber denken und urteilen können. Und sich zu fragen, ob das, was man denkt und urteilt, vor einem größeren Maßstab als der Dauersucht nach Bestätigung bestehen kann.

Romantisierende Kompromissler

Schaut man auf die Lust an Polarisierung in unserer geistigen Gegenwart, steht die Sonne tief. Der grobe Klotz hat Konjunktur. Schwarz oder weiß? Dafür oder dagegen? Es gibt einen Sog, der jeden unter Verdacht stellt, der erstmal zuhört, abwägt, beim Anderen nachfragt, der nicht sofort urteilt. Solch einer ist offenbar ohne Position, konfliktschwach, naiv, ein romantisierender Kompromissler.

Die Tendenz geht zum schnellen Urteil, zur großen Rede und zum klaren Weltbild. Gehört, gewählt und bezahlt werden die, die klare Kante zeigen, Machworte sprechen und die Welt in Slogans erklären.

Zwerge der Demokratie

Der Autor
Matthias Sellmann, Jahrgang 1966, ist Theologe und Sozialwissenschaftler, Professor für Pastoraltheologie an der Universität Bochum, Mitglied des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und des Synodalen Weges. Er ist zudem Berater der Deutschen Bischofskonferenz und Direktor des Zentrums für angewandte Pastoralforschung in Bochum. Sellmann ist Mitglied der Synodalversammlung und des Synodalen Ausschusses. 

Einige Beispiele: Wer sich öffentlich Sorgen um ungeregelte Migration macht, kommt unter den Verdacht des Rechtsextremen. Wer in der Kantine nach vegetarischer Kost fragt, ist wohl ein Verbotsapostel. Wer für den Synodalen Weg ist, ist nicht mehr universalkatholisch. Wer dagegen ist, auch nicht. Wer Olympia in NRW haben will, ist blind gegenüber den Weltproblemen. Wer Atomkraft für die Lösung hält, würde auch Trump wählen.

Um wieder neu den Überblick zu gewinnen, sollten wir Zwerge uns wieder auf die Schultern der Riesen stellen. Ich schlage Immanuel Kant vor, dessen 250. Geburtstag wir letztes Jahr feiern konnten. Kurz gesagt, hat Kant uns das universalisierende Denken vorgemacht und empfohlen. Das bedeutet: Der Konservatismus verzwergt zu provinziellem Patriotismus, wenn er nur noch die eigenen Grenzen schützt. Der Sozialismus verzwergt zu Clanherrschaft, wenn er die Menschenwürde der Einzelnen nicht fördert. Das Christentum verzwergt auf Sakristeigröße, wenn es zu stark verkirchlicht. Medien und Wissenschaften verzwergen zu geistigen Hängematten, wenn sie sich zu keinem Ideal von Wahrheit mehr verpflichten.

Der Philosoph aus Königsberg ruft uns zu: Du brauchst Mut, dich deiner geistigen Möglichkeiten auch zu bedienen. Aber nur dieser Mut wird verhindern, dass du schrumpfst.

In unseren Gast-Kommentaren schildern die Autor:innen ihre persönliche Meinung zu einem selbst gewählten Thema. Sie sind Teil der Kultur von Meinungsvielfalt in unserem Medium und ein Beitrag zu einer Kirche, deren Anliegen es ist, die Zeichen der Zeit zu erkennen.

 

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