Wenn die Advents- und Weihnachtszeit zur Belastung wird

Gefühls-Chaos zu Weihnachten: Wie die Telefonseelsorge hilft

Die Advents- und Weihnachtstage empfinden immer mehr Menschen als belastend. Einsam und hoffnungslos wenden sich viele an die Telefonseelsorge. Wie hilft der Anruf den Ratsuchenden?

 

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Wie überstehe ich Weihnachten, ohne mir das Leben zu nehmen? Was kann ich gegen meine Einsamkeit tun? Unendlich ist der Fragekatalog in Sachen Advent und Weihnachten, mit dem sich die ehrenamtlichen Mitarbeiter der Telefonseelsorge Münster schon seit September konfrontiert sehen.

„Es gibt keine Zeit im Jahr, die so emotional aufgeladen ist“, sagt Rita Hülskemper, Leiterin der münsterschen Telefonseelsorge. „Nie werden Menschen so unmittelbar mit ihrer Einsamkeit konfrontiert, wie in diesen Tagen“, ergänzt ihr Stellvertreter Thomas Kamm.

Die beiden hauptamtlichen Mitarbeiter der ökumenischen Telefon-Anlaufstelle für Menschen in Krisensituationen werden in den Adventswochen von Hilfesuchenden auf andere Themen angesprochen, als das ganze Jahr über.

 

Wenn die Struktur des Alltags fehlt

 

„Uns fällt auf, dass gerade jetzt viele Menschen eine Partnerschaft per Mobilfunk-Kurzmitteilung beenden“, nennt Hülskemper ein Beispiel. Die vom kurzfristigen Kontaktabbruch betroffenen Menschen möchten diese Trauer, ihren Verlust und den Ärger vermehrt am Telefon besprechen.

Starkes Ehrenamt
80 Ehrenamtliche beraten in der Telefonseelsorge Münster. Nach den Osterferien startet dort ein neuer Ausbildungskurs. Über eineinhalb Jahre werden die Teilnehmer jeweils donnerstags von 17 bis 20 Uhr geschult. Die Ausbildung umfasst 200 Stunden. Dazu gehören Selbsterfahrung, Gesprächsführung und praktische Anleitung. Informationen unter Tel. 02 51 / 48 25 70 oder www.telefonseelsorge-muenster.de.

Zugleich steige der Anteil jener Anrufer signifikant, die Suizid-Gedanken thematisierten. Kamm liefert das Beispiel einer Frau, die sich regelmäßig per Mail an die Telefonseelsorge wendet: Die Frau kämpft das ganze Jahr über immer wieder mit Selbstmord-Gedanken. Diese verstärken sich am Wochenende, weil sie dann nicht arbeiten muss und ihr die Struktur des Lebens fehlt. „Diese Angst und der Blick auf den Ausweg Suizid steigert sich, wenn sie nur an die Feiertage denkt“, sagt Kamm.

Wie die Mailerin, so fragten viele Menschen, was sie denn an Weihnachten machen sollten. Manche wollten das Fest gar nicht mehr erleben und zögen sich zurück, auch um die Angehörigen mit ihren Sorgen nicht mehr belasten zu wollen. Was die Telefonseelsorge in diesen Fällen tun kann? „Wir versuchen, die Wünsche der Anrufenden zu klären, damit sie in die Lage versetzt werden, selbst eine angemessene Lösung für ihr Problem zu finden“, erläutert Rita Hülskemper. Im Fall der Mailerin heiße dies vielleicht: „Mit ihr gemeinsam eine Struktur für die einsamen Tage entwickeln.“

 

„Ich habe kein Geld für Geschenke“

 

Manchmal werden auf den ersten Blick praktische Probleme zum Weihnachtsfest sichtbar. So hören sich die Gesprächspartner die Geschichte einer alleinlebenden Mutter an, die jahrelang keinen Kontakt zu ihrem Sohn und deren Familie hatte. Nun hat man sie zur Heiligabend-Feier eingeladen.

„Ich kann da nicht hingehen“, sagte die Anruferin, „weil ich kein Geld für Geschenke habe.“ Ein Fall, bei dem die Experten nicht allein auf den materiellen Aspekt schauten. „Wir haben miteinander gesprochen, ob ihr Gefühle von Scham und Angst im Weg stehen, Weihnachten mit der Familie zu feiern“, erinnert sich Hülskemper an das Gespräch.

 

Heile-Welt-Idyll

 

Ein Beispiel dafür, dass nicht immer die vordergründigen Problemstellungen der Gespräche das eigentliche Problem sind. „Wenn wir mit den Anrufenden wirklich in Kontakt treten, ist schon viel gewonnen“, betont Kamm. Dann könnten sich wirkliche Gefühle entfalten und gemeinsam Lösungswege erarbeitet werden.

Zu Weihnachten ist das nicht gerade einfach, da ein „Heile-Welt-Idyll“ aus Sicht der Experten gerade jenen vorgegaukelt werde, die unter dauerhaften Belastungen leiden. „Hinzu kommt eine Jahres-End-Bilanz“, ergänzt Kamm.

Gerade im Dezember bemerkten viele Menschen, dass sie ihre Probleme in den vergangenen zwölf Monaten nicht bewältigt hätten. „Ein Gefühl der Ohnmacht kommt auf, das Leben nicht in den Griff zu bekommen“, sagt Hülskemper. Dies belaste die eigentlich fröhlichen Tage der Weihnachtszeit für jene noch mehr, die regelmäßig Hilfe bei der Telefonseelsorge suchten. Hilfesuchende seien daher froh über die Gewissheit, auch an den Festtagen unter der Rufnummer 0800 / 111 0 111 rund um die Uhr geduldige und einfühlsame Gesprächpartner zu finden.

Haben Sie Suizidgedanken? Hier gibt es Hilfe
Menschen mit Suizidgedanken können sich an die Telefonseelsorge wenden. Sie ist unter den Rufnummern 0800 / 111 0 111 und 0800 / 111 0 222 sowie 116 123 täglich rund um die Uhr erreichbar. Sie berät kostenfrei und anonym. Der Anruf findet sich weder auf der Telefonrechnung noch in der Übersicht der Telefonverbindungen wieder. Es gibt auch eine E-Mail-Beratung. Der Mailverkehr läuft über die Internetseite der Telefonseelsorge und ist daher nicht in Ihren digitalen Postfächern zu finden. Hier geht es zur Telefonseelsorge.

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