Gast-Kommentar von Holger Zaborowski: Was uns Olympia lehren kann

Gemeinschaft ist genauso wichtig wie Medaillen und Rekorde

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Haben wir jegliches Maß beim Erfolgsstreben und nach immer mehr Konsum verloren? Ist nicht vielmehr Solidarität das Gebot der Stunde? Diese Fragen wirft Holger Zaborowski in seinem Gast-Kommentar auf und erinnert an den olympischen Gedanken.

Die Corona-Krise hält uns weiterhin in Atem. Daneben beschäftigen uns – nicht nur in Deutschland oder Europa – Unwetter, Flutkatastrophen, Dürren und zahlreiche andere Krisen. Täglich erfahren wir, wie gefährdet menschliches Leben ist.

Das ist keine neue Einsicht. Man hätte es immer wissen können. Gerade in den hochentwickelten Ländern haben wir diese Wahrheit jedoch lange verdrängt: Nun werden wir schmerzhaft an die Grenzen unseres Handelns erinnert.

Haben wir nicht unser Maß verloren – im Streben nach immer mehr Erfolg? Nach immer mehr Konsum? Nach immer größerem Reichtum? Nach immer besseren Lebensbedingungen?

 

Menschen wollen nicht stehen bleiben

 

Der Autor
Holger Zaborowski ist Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt.

Wir Menschen wollen bei dem, was wir einmal erreicht haben, nicht stehen bleiben. Wir streben darüber hinaus. Daran ist nichts Falsches. Im Gegenteil. Aber dieses „Mehr“ muss inhaltlich gefüllt werden. Und das kann sehr unterschiedlich erfolgen.

Im Sport geht es wesentlich darum, mehr zu erreichen, besser oder schneller als andere zu sein. Das berühmte Motto der olympischen Spiele „citius, altius, fortius“ – deutsch: schneller, höher, stärker – zeigt das deutlich. Das olympische Komitee hat dieses Motto nun ergänzt, und zwar um communiter, das heißt „gemeinschaftlich“.

Diese Ergänzung ist – durchaus zu Recht – als bloßes Lippenbekenntnis oder leere Geste kritisiert worden. Doch kann man ihr auch etwas Positives abgewinnen. Sie erinnert an etwas, das für alle Menschen weit über die Welt des olympischen Sports hinaus von Bedeutung ist.

 

Solidarität als Gebot der Stunde

 

Es gibt nämlich das Mehr, in dem der Mensch sich nur auf sich selbst bezieht. Das Mehr der Ich-AGs und Selbstoptimierer, das Mehr, für das Mitmenschen und Natur nur den eigenen Zwecken dienen, das Mehr, das uns nicht mehr zur Ruhe kommen lässt und uns hektisch vom einen zum anderen treiben lässt, ohne dass wir je irgendwo ankämen. Aber es gibt auch ein anderes Mehr. Das kleine Wort communiter, gemeinschaftlich, weist einen Weg zu diesem Mehr: Es ist das Mehr, das entsteht, wenn ich mich nicht mehr allein auf mich stelle. Wenn ich anerkenne, dass ich immer schon mit anderen Menschen zusammenlebe.

Dieses Zusammenleben ist jedoch keine neutrale Tatsache. Es nimmt mich in Anspruch. Denn wir leben als Menschen miteinander, füreinander und auch voneinander.

Auch dies ist keine neue Wahrheit. Die Krisen der Gegenwart erinnern uns auch daran mit Nachdruck – an etwas, das eigentlich selbstverständlich ist. Diese Erkenntnis hat Folgen für unser Handeln. Oft spricht man daher – auch in olympischen Kreisen – derzeit von Solidarität als dem Gebot der Stunde. Ein Mehr an Solidarität – das kann nie schaden und lässt uns ankommen – bei uns selbst und vor allem auch bei anderen Menschen.

Die Positionen der Gastkommentare spiegeln nicht unbedingt die Meinung der Redaktion von „Kirche+Leben“ wider.

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